Ed Loy - 01 - Blut von meinem Blut
Revier hatten sie mir ein gummiartiges Hühnchen mit zerkochten Pommes vorgesetzt, aber ich hatte keinen Bissen runtergebracht. Jetzt aß ich eine getrocknete Tomate, eine Pizza mit frischem Basilikum und Parmesan, Hähnchenflügel in Bohnensauce und ein Schälchen Salat aus Avocado, Tomaten und roten Zwiebeln. Es schmeckte, und das war auch gut so, denn ich hatte für das Essen mehr bezahlt als für den Alkohol. Rory Dagg wollte nichts essen. Er goss sich einen weiteren Whisky ein und musste sich sichtlich zwingen, ihn nicht auf einmal zu kippen. Vielleicht war er wirklich Alkoholiker – mir war das egal, schließlich war ich weder sein Sozialarbeiter noch sein Seelenklempner. Vielleicht wäre ich auch Alkoholiker, wenn ich mit Caroline Dagg verheiratet wäre. Vielleicht war ich auch schon einer. Wen interessierte das? Es konnte schließlich alles noch schlimmer sein: Wir könnten tot sein, und irgendwann würden wir es auch sein. Ich leistete Dagg beim zweiten Whisky Gesellschaft und spürte, wie ich langsam ruhiger wurde und die Dinge klarer zu sehen begann. Dagg fing an zu erzählen, wie sehr seine Frau sich verändert habe, seit sie ihren Job aufgegeben hatte, um sich nur noch um die Kinder zu kümmern, wie beschränkt ihr Horizont seitdem sei, dass sie unbedingt neue Anregungen brauche, aber ich hörte ihm nicht zu. Ich genoss die überwältigende Illusion von Klarsicht, die der Whisky mir schenkte. Sie würde nicht von Dauer sein, aber solange sie anhielt, verlieh sie der Welt ein Muster und einen Zusammenhang, eine Ordnung, und ich hatte das Gefühl, meine Aufgabe sei einfach und müsse unweigerlich zum Erfolg führen. Ich hörte erst wieder zu, als Dagg auf seinen Onkel zu sprechen kam.
»Ich habe Ihnen die Adresse des Pflegeheims aufgeschrieben«, sagte er und gab mir ein liniertes Blatt Papier.
»Sie sollten mitkommen«, sagte ich. »Sonst lässt man mich vielleicht nicht zu ihm.«
»Ich habe ihn noch nie besucht«, sagte Dagg. Er lief rot an und streckte eine zitternde Hand nach der Whiskyflasche aus. Meine Hand war schneller. Alkoholiker – von mir aus, aber ein rührseliger Besoffener nützte mir gar nichts. Stattdessen gab ich ihm eine zweite Flasche Guinness.
»Ich bezahle seinen Aufenthalt dort. Aber ich werde ihn nicht besuchen. Auf keinen Fall. Nach allem, was er meinem Vater angetan hat.«
»Was meinen Sie damit? Dass er die Unterschrift Ihres Vaters im Journal für den Rathausbau gefälscht hat?«
Dagg sah mich an. Er schien immer noch abzuwägen, wie viel er sagen sollte, und ich überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, seine Frau zum Bleiben zu bewegen. Aber dann wandte er den Blick ab und nickte kurz.
»Woher wissen Sie das?«, fragte er.
»Die Unterschriften in den anderen Journalen weichen innerhalb eines bestimmten Musters sehr voneinander ab. Das ist bei den meisten Leuten so, wenn sie unterschreiben. Aber die Unterschriften im Rathaus-Journal sind alle identisch, und sie sehen genauso aus wie die auf den gerahmten Bauplänen Ihres Vaters. Die hat er natürlich sorgfältiger signiert, weil sie ja aufgehängt werden sollten. Und warum weicht ein einziges Journal so auffällig von den anderen ab? Weil die Unterschriften gefälscht sind, sorgfältig und mit voller Absicht. Wenn es nur ein oder zwei gewesen wären, wäre es eine geradezu brillante Fälschung.«
Rory bedachte mich mit einem kurzen, säuerlichen Lächeln.
»Ein brillanter Fälscher war Jack Dagg nun wirklich nicht. Auch kein brillanter Einbrecher, Erpresser oder Taschendieb. Aber lügen konnte er gut. Und er war ganz groß darin, die Gutmütigkeit meines Vaters auszunutzen.«
»Indem er sich als Ihr Vater ausgegeben hat?«
»Jack war ständig in Geldnöten, Geld lief ihm wie Wasser durch die Finger, er hat alles versoffen und verspielt. Zu Anfang, als mein Vater noch ein einfacher Bauarbeiter war, hat er Jack immer mal für sich einspringen lassen, wenn der wieder dringend Geld brauchte. Und während Dad sich langsam hochgearbeitet, weitere Qualifikationen erworben und Prüfungen bestanden hat, musste er immer auch Arbeit für Jack finden. Jack hatte keine Qualifikationen und auch keine Fähigkeiten, aber solange er die Leute rumkommandieren konnte, fiel das nicht weiter auf … Er war frech, hatte jede Menge Selbstbewusstsein, viel mehr als mein alter Herr, und er hatte einen Draht zu den einfachen Leuten. Als mein Vater Vorarbeiter war, konnte Jack also wieder einspringen und sich für ein paar Tage Geld zum
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