Ed Loy - 01 - Blut von meinem Blut
strahlende Frau um die sechzig. Sie trug die blaugraue Tracht einer Krankenschwester, aber der grauweiße Schleier und das silberne Kreuz, das sie um den Hals trug, offenbarten ein weiteres Gelübde. Sie führte uns über eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock und dann durch einen holzgetäfelten Flur zu Jack Daggs Zimmer, wo sie den immer noch widerstrebenden Rory Dagg zu seinem Onkel hineinbrachte. Ich ging zurück ins Treppenhaus und wartete. Das Buntglasfenster, das das Treppenhaus in diesem Stockwerk mit Licht versorgte, zeigte die neunte Station des Kreuzwegs, den dritten Zusammenbruch Jesu unter dem Kreuz. Das Fenster auf dem Treppenabsatz zeigte die vierte Station, den Abschied von der Mutter Maria. Ich überlegte, ob hinter dieser Anordnung eine eigene Logik steckte oder ob die Stationen in diesem Haus der Sterbenden einfach willkürlich verteilt waren. Ich hörte das Weinen einer Frau, den Fernsehkommentar zu einem Pferderennen und die zischelnde Unterhaltung zwischen zwei älteren Damen, die über Onkologen, Testergebnisse und Erlösung tuschelten.
Rory Dagg blieb nur wenige Minuten weg. Als er an mir vorbeiging, deutete er mit dem Arm auf die Zimmertür seines Onkels. Er sagte kein Wort. Schwester Ursula trat zu mir auf den Treppenabsatz, und gemeinsam schauten wir ihm nach, wie er die Stufen hinuntersprang, die Eingangshalle durchquerte und zur Tür hinausrannte. Als ich wieder aufsah, merkte ich, dass Schwester Ursula den Kopf schüttelte.
»Wovor hat er Angst, Mr. Loy, was glauben Sie? Vor seinem Onkel? Oder vor sich selbst?«
»Vor der Vergangenheit«, sagte ich.
Schwester Ursula begleitete mich zu Jack Daggs Zimmertür.
»Dort lebt auch Jack Dagg, Mr. Loy, mit all seinen Sünden. In der Vergangenheit.«
In ihren Augen lag ein Funkeln. Ich mochte ihre Energie, ihre Lebensfreude, ich wollte das alles einsaugen, in mich aufnehmen und fragte mich, ob die Sterbenden es wohl als Inspiration oder als Qual empfanden, mit so viel Lebenskraft konfrontiert zu sein, wenn ihr eigenes Leben zu Ende ging.
Jack Daggs Leben ging zu Ende, man sah es an den eingefallenen Wangen, der wächsernen Blässe, dem schwindenden Glanz seiner dunklen Augen. Er hatte rote Flecken auf den Lymphdrüsen am Hals, sein Haar glänzte matt wie feuchter Zement, die knochigen Hände lagen mit gespreizten Fingern auf der Bettdecke wie zwei alte Fächer. Er hatte die Augen geschlossen, der Kopf war zur Seite gesunken. Ich setzte mich auf den Stuhl neben seinem Bett, zog einen Flachmann mit Jameson aus der Innentasche, goss etwas davon in ein Glas, das auf dem Nachttisch stand, und hielt es ihm unter die Nase. Er schlug die Augen auf und wandte sich dem Whiskyglas zu. Ich hielt es ihm an den Mund und flößte ihm den Inhalt ein. Er trank das Glas leer und seufzte dann.
»Gott segne dich, Junge«, sagte er und schloss die Augen wieder.
Nach einer Weile sagte er: »Rory hat’s mir erzählt. Ist es die Werkstatt?«
»Nein«, sagte ich, »das Rathaus. Man hat dort eine Leiche gefunden.«
Er nickte.
»Das Rathaus, ja. Tut mir Leid, wenn ich dummes Zeug rede. Weißt du, mit meinem Blut stimmt was nicht. Ich müsste das von jemand anderem kriegen, sogar das Knochenmark. Aber jetzt geht’s nicht mehr. Jetzt ist es dafür zu spät.«
»Er hieß Kenneth Courtney«, sagte ich. »Kannten Sie ihn?«
»Ich hab sie alle gekannt, Junge. Hab sie alle gekannt, damals.«
»Auch John Dawson?«
»Mr. Dawson und ich. Hab ’n paar Dinger für ihn gedreht.«
»Was für Dinger?«
»Alles Mögliche. Wenn wer anders den Zuschlag für einen Auftrag gekriegt hatte, den wir wollten, hab ich dafür gesorgt, dass deren Laster und Betonmischer verschwanden, die Werkzeuge und alles. Manchmal haben sich auch ein paar Maurer den Arm gebrochen, oder Schwarzarbeiter sind aufgeflogen. Hab ich alles für ihn erledigt.«
»Haben Sie Kenneth Courtney im Fundament des Rathauses begraben?«
»Nein. Ich hab einen Toten begraben, aber ich wusste nicht, wer das ist. Man stellt ja keine Fragen, stimmt’s?«
»Das Gesicht des Toten war nicht verhüllt. Wenn Sie ihn selbst begraben haben, müssen Sie ihn doch erkannt haben. Aus Fagan’s Villas.«
»Als ich ihn gesehen hab, lag er mit dem Gesicht nach unten. Ich hab nur Beton draufgeschaufelt.«
»Und das war eins der Dinger für John Dawson?«
»Ja, Mr. Dawson hat mich angerufen.«
»Er hat Sie angerufen und gesagt, auf der Baustelle liegt ein Toter, fahr hin und betonier ihn ein?«
»Kümmer dich
Weitere Kostenlose Bücher