Edelherb: Roman (German Edition)
ging ich den Flur entlang und schlüpfte durch die Tür mit der Aufschrift »Feuertreppe«. Mit steifen Beinen – in der vergangenen Woche hatte ich mich kaum bewegen können – lief ich die Stufen hinunter. Im Erdgeschoss steckte ich den Kopf in den Gang. Eine Wärterin dirigierte Verletzte durch den Korridor. Nun hieß es: jetzt oder nie, doch ich wusste nicht, wie ich am Ausgang vorbeikommen sollte, ohne von den Wachen oder den verletzten Mädchen auf den Tragen entdeckt zu werden. Da hob Mouse ihren Kopf. Sie hatte ein frisches blaues Auge und ihre Nase sah aus, als sei sie gebrochen. Mit dem gesunden Auge sah sie mich an. Ich winkte ihr zu. Sie nickte und artikulierte lautlos ein Wort, das aussah wie: »Jetzt!« Dann kreischte sie los. Noch nie zuvor hatte ich ihre Stimme gehört, doch jetzt schrie sie für mich. Ihr Körper bäumte sich auf und schüttelte sich. Mit den Armen schlug sie offenbar ziellos um sich, doch von meiner Position aus konnte ich erkennen, dass es gespielt war. Es gelang Mouse, alle Aufsichtspersonen und die anderen Mädchen zu schlagen, die sich in ihrer Nähe befanden.
»Das Mädchen hat einen Anfall!«, rief eine Wärterin.
Als sich aller Aufmerksamkeit auf Mouse richtete, konnte ich vorbeischlüpfen.
Mit bloßen Füßen lief ich nach draußen. Es war Ende Oktober und um die zehn Grad, doch ich spürte die Kälte kaum. Ich musste zum Tor gelangen. Simon Green hatte die Wache bestochen, die am Ausgang stand, aber für den Fall der Fälle hatte er mir eine Spritze mit einem Beruhigungsmittel mitgebracht, als er mir den Schlüssel für die Handschellen gegeben hatte. Ich hoffte, ich würde sie nicht benutzen müssen, aber falls doch, wusste ich, dass ich auf den Hals zielen musste.
Ich lief über einen Grasstreifen. Kletten zwickten mir in die Füße; ich versuchte, nicht zusammenzuzucken.
Schließlich war ich auf der kopfsteingepflasterten Zufahrt, die zum Ausgang führte. Seltsamerweise hatte jemand das Tor weit geöffnet. Ich schaute in das Wachhäuschen. Niemand zu sehen. Ich fragte mich, ob auch diese Wache zum Schlafsaal der Mädchen gerufen worden war.
Fast hatte ich das Wasser erreicht, als jemand meinen Namen rief. »Anya Balanchine!«
Ich drehte mich um. Es war Mrs. Cobrawick.
»Bleib stehen, Anya Balanchine!«
Ich überlegte, ob ich zurücklaufen und ihr die Spritze verpassen oder weiterlaufen und es einfach drauf ankommen lassen sollte. Am Ufer sah ich mich um. Das Ruderboot, das mich nach Ellis Island bringen sollte, war noch nicht da.
Ich drehte mich um. Mrs. Cobrawick kam auf mich zugerannt. Ich hörte einen Elektroschocker summen.
» STOPP !«, rief sie.
Ich hetzte auf das Wasser zu.
»Du wirst ertrinken!«, rief Mrs. Cobrawick. »Du wirst erfrieren! Du wirst dich verirren! Anya, das ist es nicht wert! Du glaubst, es gibt keine Hoffnung für dich, aber das kann man alles besprechen.«
Ich konnte das Flutlicht auf Ellis Island erkennen. Ich wusste, dass die Insel ungefähr eine Meile entfernt war, aber da ich in einer Zeit großer Wasserknappheit lebte, war ich nicht die erfahrenste Schwimmerin. Doch wusste ich genug übers Schwimmen, um zu ahnen, dass eine Meile im Wasser sich wie zehn Meilen an Land anfühlen würde. Aber welche Wahl hatte ich schon? Jetzt oder nie.
Ich sprang hinein.
Kurz bevor ich mit dem Kopf untertauchte, meinte ich zu hören, dass Mrs. Cobrawick mir Glück wünschte.
Das Wasser war eiskalt. Ich spürte, wie sich meine Lunge zusammenzog.
Das Krankenhaushemd bauschte sich so auf, dass ich das Gefühl hatte, es würde mich unter Wasser ziehen. Ich streifte es ab. Lediglich in Unterwäsche begann ich, im Dunkeln zu schwimmen.
Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich je übers Schwimmen gehört oder gelesen hatte. Die Atmung war wichtig. Kein Wasser in die Lunge bekommen. Und geradeaus schwimmen. Mehr fiel mir nicht ein. Hatte Daddy denn nie was zum Thema Schwimmen gesagt? Zu jedem anderen Thema der Welt hatte er sich geäußert.
Ich ignorierte die Kälte.
Ich ignorierte meine Lunge und mein Herz.
Ich ignorierte meine schmerzenden Gliedmaßen.
Ich schwamm.
Atmen, Anya. Geradeaus schwimmen. Das sprach ich mir in Gedanken immer wieder vor, während ich mit den Armen paddelte und mit den Beinen schlug.
Ich hatte fast drei Viertel der Strecke nach Ellis Island zurückgelegt und war völlig erschöpft, als ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf hörte. Ich wusste nicht, ob er diesen Satz wirklich zu mir gesagt
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