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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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hatte oder ob ich gerade den Verstand verlor. Seine Stimme sagte: »Wenn dich jemand ins Becken wirft, Annie, dann versuchst du nur, nicht zu ertrinken.«
    Schwimmen.
    Atmen.
    Nicht ertrinken.
    Schwimmen.
    Atmen.
    Nicht ertrinken.
    Eine gefühlte Stunde später war ich da.
    Ich spürte die Felsen unter mir und musste husten. Dennoch, ich war noch nicht am Ziel. Ich vermutete, dass ich zu spät dran war, und wollte nicht auch noch das zweite Boot verpassen. Mit schweren Armen erklomm ich die steinige Klippe. Die scharfen Kanten der Felsen schnitten mir die Beine und den nackten Bauch auf, doch ich schaffte es irgendwie, nach oben zu gelangen.
    Als ich versuchte, mich aufzurichten, versagten mir meine Beine den Dienst. Im Hals und in der Lunge hatte ich ein ekliges, feuchtes Gefühl. Und dennoch lebte ich. Ich lief am Ufer entlang, bis ich das Boot entdeckte, das mich mitnehmen sollte.
    Der Seemann wandte den Blick ab, als er mich halbnackt herankommen sah. »’tschuldigung, Miss. In dem Sack da sind Klamotten für Sie. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie fast nichts anhaben würden.«
    Er ließ den Motor an, und los ging es nach New Jersey. »Hatte schon Angst, Sie kommen gar nicht mehr«, sagte der Seemann. »Ich wollte schon ohne Sie losfahren.«
    Ich öffnete den Seesack und erblickte Jungenkleidung – ein Hemd, eine Schiebermütze, eine graue Hose mit Hosenträgern, eine Jacke, ein großes Stück Verbandsstoff, eine Brille mit runden Gläsern –, dann entdeckte ich einen gefälschten Ausweis auf den Namen Adam Barnum, ein wenig Geld, einen Schnurrbart mit Hautkleber und schließlich auch die Schere. Zuerst zog ich die Kleidung an. Ich wickelte das Haar zu einem Knoten und versteckte es unter der Mütze. Das war ein seltsames Gefühl. Ich fragte den Seemann, ob er einen Spiegel habe. Mit dem Kinn wies er hinab in die Kabine. Ich stieg hinunter und nahm die Schere, den Verband und den Schnurrbart mit.
    Die Kabine wurde von einer einzigen Birne beleuchtet. Der Spiegel hatte höchstens fünfzehn Zentimeter Durchmesser und war von der Seeluft angelaufen. Er musste reichen. Ich gab etwas Kleber auf die Oberlippe und drückte den Schnurrbart fest. Schon hatte ich weniger Ähnlichkeit mit mir, aber ich fand immer noch, die Verkleidung sei nicht ganz überzeugend. Die Haare mussten ab.
    Ich breitete den Seesack aus, damit er die abgeschnittenen Haare auffing. Nur selten ging ich zum Frisör, selbst hatte ich mir die Haare noch nie geschnitten. Ich dachte an Wins Hand auf meinem Haar, doch nur kurz. Jetzt war keine Zeit für Sentimentalitäten. Ich griff zur Schere, und in weniger als drei Minuten hatte ich nur noch zwei Zentimeter lange Locken auf dem Kopf. Der Schädel und der Nacken fühlten sich nackt und kalt an. Ich betrachtete mich im Spiegel. Mein Kopf wirkte zu rund, meine Augen zu groß, und wenn überhaupt, dann sah ich jünger aus als vorher. Ich setzte die Schiebermütze wieder auf. Sie war entscheidend, fand ich.
    Mit der Mütze auf dem Kopf sah ich nicht wie Anya Balanchine aus. Und wenn ich die Augen zusammenkniff, fand ich sogar, ich hätte ein wenig Ähnlichkeit mit meinem Bruder.
    Ich setzte die Brille auf. Besser.
    Dann trat ich einen Schritt zurück, um mehr von mir in dem kleinen Spiegel erkennen zu können.  
    Die Kleidung war durchaus männlich, aber irgendetwas stimmte nicht.
    Klar, die Brüste.
    Ich knöpfte mein Hemd auf und wickelte den Verbandsstoff eng um meinen Oberkörper – er brannte an den Stellen, wo ich mir die Haut aufgerissen hatte –, dann knöpfte ich mich wieder zu.
    Ich betrachtete mich.
    Die Wirkung war nicht schrecklich, doch sie verstörte mich. Es mag lächerlich klingen, aber ich hatte den größten Teil meines Lebens als ein Mensch verbracht, den man als hübsch bezeichnete. Jetzt war ich nicht mehr hübsch. Ich sah nicht mal mehr gut aus. Ich war irgendwas zwischen gewöhnlich und androgyn. Aber ich fand, ich konnte mich durchaus vorstellen als – wie hieß er noch gleich? – Adam Barnum.
    Ich fragte mich, ob ich in Mexiko die ganze Zeit so herumlaufen sollte oder ob das nur so lange gedacht war, wie ich auf der Flucht war. Denn ich befürchtete, die Verkleidung funktionierte am besten, wenn man mich nicht zu gründlich unter die Lupe nahm.
    Ich stieg die Leiter hoch zum Oberdeck und warf die abgeschnittenen Haare über Bord.
    Als der Seemann mich erblickte, erschrak er und griff zu seiner Waffe.
    »Captain, nicht schießen! Ich bin’s nur.«
    »Potzblitz, ich

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