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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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elfenbeinfarbene Bohne heraus. »Probier mal!«, sagte er.
    Ich nahm die Bohne in den Mund. Sie hatte einen nussigen Geschmack, fast mandelartig, doch darunter war die zarte Andeutung künftiger Süße zu ahnen.
     
    Frühmorgens ging ich von nun an immer mit Theo und den anderen Bauern hinaus auf die Plantage, um nach Anzeichen von Schimmel und nach jeder reifen Kakaofrucht zu suchen, die wir finden konnten. Ungewöhnlich an Kakao ist, dass nicht alle Früchte zur selben Zeit reif sind. Einige blühen früh, andere hingegen spät. Es brauchte Übung, um den richtigen Moment der Reife zu erkennen. Ihr Gewicht, ihre Größe, die Farbe, die Zeichnung der dicken Rippen – all das konnte variieren. Wir gingen vorsichtig mit unserem Werkzeug um – Macheten für die unten wachsenden Früchte und ein langer Stiel mit Haken für die weiter oben –, weil die Baumrinde schnell verletzt werden konnte. Die Werkzeuge waren stumpf, die Kakaobäume empfindlich. Obwohl die Plantage überschattet war, bekam ich viel Farbe. Mein Haar wuchs nach. Meine Hände waren zu Beginn übersät mit Blasen, später wurden daraus dicke Schwielen. Ich hatte mir Lunas Machete ausgeliehen, da Theos Schwester mit diesem Abschnitt der Produktionskette nichts anfangen konnte.
    Die eigentliche Ernte fand kurz vor Thanksgiving statt, das in Granja Mañana eh niemand feierte. Dennoch konnte ich nicht umhin, an Leo in Japan zu denken, an meine Schwester und alle anderen zu Hause in New York. Am ersten Tag der Ernte trafen die Nachbarn mit Körben ein, und fast eine Woche lang klaubten wir die reifen Kakaofrüchte auf. Nachdem wir sie gesammelt und auf die trockene Seite der Farm transportiert hatten, begannen wir mit dem Spalten der Früchte. Mit Hilfe von Hämmern und Klopfern öffneten wir die Kapseln. Theo schaffte knapp fünfhundert in einer Stunde. An meinem ersten Tag brachte ich es, glaube ich, auf insgesamt zehn.
    »Du kannst das gut«, sagte ich zu ihm.
    Mein Kompliment perlte an ihm ab. »Muss ich ja. Das liegt mir im Blut, ich mache es schon mein Leben lang.«
    »Glaubst du denn, du wirst das auch für den Rest deines Lebens machen? Kakaoanbau, meine ich?«
    Er schlug die nächste Frucht auf. »Früher wollte ich immer Chocolatier werden. Ich wollte diese Kunst irgendwo im Ausland lernen, vielleicht bei einem der Meister in Europa, aber jetzt sieht es nicht mehr danach aus.«
    Ich fragte ihn nach dem Grund, und er erwiderte, man brauche ihn hier. Sein Vater sei tot, und seine Geschwister interessierten sich nicht besonders für das Familiengeschäft. »Meine Mutter leitet die Fabriken, ich die Plantagen. Ich kann sie nicht im Stich lassen, Anya.« Schalkhaft grinste Theo mich an. »Es ist bestimmt schön, weit fort von zu Hause zu sein. Frei von Verpflichtungen und Verantwortung.«
    Ich hätte ihm gerne gesagt, dass ich ihn verstand. Ich wollte ihm die Wahrheit über mich erzählen, konnte aber nicht. »Jeder hat so seine Verpflichtungen«, bemerkte ich nur.
    »Was willst du denn für Verpflichtungen haben? Du kommst ohne Koffer oder sonst irgendwas hierher. Du rufst niemanden an, dich ruft niemand an. Mir kommst du ziemlich frei vor, und wenn ich ehrlich bin, beneide ich dich!«
     
    Als alle Bohnen aus den Früchten geholt worden waren, wurden sie auf belüftete Holzkisten verteilt. Sie wurden mit Bananenblättern abgedeckt, dann überließ man die Bohnen ungefähr sechs Tage sich selbst, damit sie fermentierten. Am siebten Tag verteilten wir die vergorenen Bohnen draußen auf Holzbretter, um sie zum Trocknen in die Sonne zu legen.
    Das war der Zeitpunkt, – in meinen Augen der am wenigsten aufwendige –, wo Luna übernahm und Theo somit Zeit hatte, in die Stadt zu fahren und in den Fabriken der Marquez’ nach dem Rechten zu sehen. Hin und wieder mussten wir die Bohnen wenden, um sicherzugehen, dass sie gleichmäßig trockneten. Das gesamte Trocknen dauerte etwas mehr als eine Woche, da wir bei Regen unterbrechen und die Bohnen abdecken mussten.
    »Ich glaube, mein Bruder mag dich«, sagte Luna zu mir, als wir die Bohnen wendeten.
    »Castillo?« Ich hatte nur sehr wenig von ihm gesehen, seit er mich damals aufgefangen hatte, aber mein Eindruck von ihm war auf jeden Fall positiv gewesen.
    »Castillo wird Priester, Anya! Nein, ich meine natürlich Theo.«
    »Vielleicht als Schwester«, gab ich zurück.
    »Ich bin seine Schwester, und ich glaube das nicht. Ständig schwärmt er Mama vor, wie fleißig du arbeitest und dass du ihm so

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