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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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auf die Idee gekommen zu fragen.
    Ich musste nach draußen. Ich lieh mir einen Steppmantel aus dem Kleiderschrank meines Gastgebers und achtete darauf, die Kapuze überzuziehen. Da ich keinen Schlüssel hatte, konnte ich die Tür nicht versperren, aber was änderte das schon? Niemand würde die Wohnung von Simon Green im fünften Stock ausrauben. Selbst wenn, war da nichts von Wert zu holen. Auffällig an Simon Greens Apartment war, wenn überhaupt, nur das eigentümliche Fehlen von persönlichen Gegenständen.
    Ich ging die Treppen hinunter.
    Draußen war es noch kälter als bei meiner Ankunft. Der Himmel war grau, es sah aus, als würde es bald regnen.
    Ich lief ungefähr eine halbe Meile, einen Hügel hinauf und vorbei an Schänken, Schulkindern, Secondhand-Läden und Kirchen. Niemand beachtete mich. Schließlich gelangte ich vor die Tore eines Friedhofs. Man muss nur lange genug in eine Richtung gehen, dann trifft man immer auf einen Friedhof.
    Auf dem Tor stand »Green Wood Cemetery«, und obwohl ich seit der Beerdigung meines Vaters nicht mehr hier gewesen war, wusste ich genau, dass sich hier die Grabstätte unserer Familie befand. Auch meine Mutter war hier begraben sowie Nana, deren Grab ich noch nicht besucht hatte. (Damit war auch das Geheimnis gelöst, in welchem Teil von Brooklyn Simon Green lebte – er lebte in Sunset Park, wo viele Balanchines gewohnt hatten, bevor sie auf die Upper East Side zogen.)
    Ich wanderte über den Friedhof. Ich meinte, mich grob an die Richtung erinnern zu können, wo das Familiengrab war, dennoch verlief ich mich mehrmals. Schließlich wurde mir klar, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, und ich ging zum Informationsbüro. Ich tippte BALANCHINE in den uralten Computer, und auf der Karte wurde ein bestimmter Ort angezeigt. Erneut machte ich mich auf den Weg. Es wurde minütlich kälter und grauer, ich hatte keine Handschuhe dabei und fragte mich, wieso ich überhaupt hergekommen war.
    Das Familiengrab befand sich am Rande des Friedhofs: fünf Grabsteine und noch Platz für einige mehr. Bald würde auch mein Bruder hier liegen.  
    Nanas Grab war das neueste. Der Stein war klein und schlicht, die Inschrift besagte: GELIEBTE MUTTER , EHEFRAU UND GROSSMUTTER . Ich fragte mich, wer das entworfen hatte. Dann kniete ich mich hin, bekreuzigte mich und küsste den Stein. Auch wenn der Brauch außer Mode gekommen war, Blumen an Gräbern zu hinterlassen, hatte ich es auf Fotos gesehen und bedauerte, keine mitgebracht zu haben. Nicht einmal ein paar der von Nana so verhassten Nelken. Wie sonst sollte man sagen:
Ich war hier
? Wie sollte man sonst sagen:
Ich denke immer noch an dich
?
    Das Grab meiner Mutter befand sich neben dem von Nana. Ihr Grabstein war herzförmig und trug die Inschrift: DER GELIEBTE IST MEIN , UND ICH BIN SEIN . Keine Erwähnung der Kinder, die sie zurückgelassen hatte. Wie wenig ich sie gekannt hatte, wie wenig sie mich gekannt hatte. Ein wenig Unkraut um den Rand ihres Grabes. Ich holte meine Machete aus der Scheide und schnitt es ab.
    Daddy lag hinter meiner Mutter: SCHAU IMMER ZUR SONNENSEITE . Seinen Grabstein zierten drei Zweiglein grüner Kräuter. Sie wurden von einem Steinchen festgehalten und waren noch frisch, offenbar erst vor kurzem dort abgelegt. Ich beugte mich vor, um an ihnen zu schnuppern. Es war Minze. Ich fragte mich, was Minze für eine Bedeutung besaß und wer das getan hatte. Wahrscheinlich einer der Männer, die für meinen Vater gearbeitet hatten.
    Auch wenn ich herzlos erscheine, aber ich spürte nicht viel beim Anblick dieser Gräber. Es flossen keine Tränen. Leos Tod, Imogens Tod, der Schuss auf Theo – ich war ausgetrocknet. Die Toten waren tot, man konnte so viel weinen, wie man wollte, sie kamen nicht wieder zurück. Ich schloss die Augen und murmelte das halbherzige Gebet einer jungen Zynikerin.
    Als ich wieder bei Simon Green eintraf, wartete er bereits auf mich. »Ich dachte, du wärst ermordet worden«, sagte er.
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ich musste mal raus.«
    »Hast du dich mit Win getroffen?«
    »Natürlich nicht. Ich bin spazieren gegangen.«
    »Egal, wir müssen jetzt los«, sagte er. »Wir haben ein Gespräch mit Bertha Sinclair und müssen in zwanzig Minuten im Zentrum sein. Sie war einverstanden, sich noch vor dem Wochenende mit uns zu treffen.«
    Ich trug Simon Greens Mantel, dazu eine Hose und ein Hemd von ihm, aber es blieb keine Zeit mehr zum Umziehen.
    Wir rasten die Treppen hinunter, dann saßen

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