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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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gab es nichts anderes in der Welt, worüber man momentan sprechen konnte. Sie war bereits in der ersten Bewerbungsrunde von Yale angenommen worden und hatte vor, Politikwissenschaft und Umwelttechnik zu studieren. Ich verspürte wieder diesen brennenden Neid – ja, genau das war es – in mir aufkommen. Ich musste dringend weg von hier.
    Ich hatte es satt, von den Plänen meiner Klassenkameraden für das kommende Jahr zu hören, und beschloss, hoch in Wins Zimmer zu gehen und mich dort hinzulegen, doch als ich hineinschaute, war es besetzt. Dasselbe mit dem Schlafzimmer von seinen Eltern, abartig genug. Ich ging wieder nach unten. Ich wusste, dass das Büro von Wins Vater Sperrgebiet war. Aber ich wusste auch, dass Charles Delacroix an diesem Abend unterwegs war, deshalb konnte es ihn nicht stören. Ich entfernte die goldene Kordel, die um die Türgriffe geknotet war, und schlüpfte hinein.
    Ich setzte mich auf eins der Ledersofas. Dann zog ich die Schuhe aus und legte mich der Länge nach hin. Gerade war ich eingenickt, als jemand hereinkam.
    »Anya Balanchine«, sagte Charles Delacroix. »So treffen wir uns wieder.«
    Mit Mühe richtete ich mich auf. »Sie sind es.«
    Er trug einen rotkarierten Flanellbademantel und hatte sich tatsächlich einen Bart wachsen lassen. Das gab ihm ein wenig das Aussehen eines Obdachlosen. Ich fragte mich, ob er mich aus seinem Büro werfen würde, doch das tat er nicht.
    »Meine Frau hat darauf bestanden, diese verflixte Party zu geben«, sagte er. »Jetzt, wo ich arbeitslos bin, hat meine Meinung weniger Gewicht, als mir lieb ist. Ich hoffe, dass diese grässliche Feier nicht ewig dauert.«
    »Sie stellen sich aber an. Das ist eine Geburtstagsfeier. Ist doch nur ein Abend.«
    »Stimmt. Solche Kleinigkeiten scheinen momentan schwerer auf mir zu lasten als sonst«, gab Charles Delacroix zu. »Aber sieh doch, wie wunderbar
du
dich offenbar amüsierst.«
    »Ich habe Ihren Sohn lieber für mich allein.«
    »Ist das der Grund, warum du in mein Büro eingebrochen bist?«
    »Eine Kordel wegzunehmen ist doch kein Einbruch!«
    »Das passt zu dir. Du hattest immer schon – wie soll ich mich ausdrücken? – eine flexible Einstellung gegenüber dem Gesetz.« Ich war mir ziemlich sicher, dass er mich neckte.
    Ich sagte ihm die Wahrheit – dass ich nicht mehr hören konnte, wie meine ehemaligen Mitschüler mir von ihren Zukunftsplänen vorschwärmten. »Sie sehen, ich bin ohne Pläne, Mr. Delacroix. Und Sie müssen zugeben, dass Sie gewissen Anteil an meiner aktuellen Situation haben.«
    Er zuckte mit den Achseln. »So ein einfallsreiches Mädchen wie du? Ich wette, du hast noch das eine oder andere Ass im Ärmel. Rache nehmen für den Tod deines Bruders oder so. Den Unfähigen, die gerade dein Schokoladenimperium führen, die Zügel aus der Hand nehmen.«
    Ich schwieg.
    »Na, komm! Habe ich den Nagel auf den Kopf getroffen?«
    »Sie müssen sich bei mir entschuldigen, Mr. Delacroix.«
    »Tja, das stimmt wohl«, sagte er. »Die Monate seit unserem letzten Treffen waren für dich zweifellos schlimmer als für mich. Aber du bist noch sehr jung, du wirst dich erholen. Ich bin alt, zumindest im mittleren Alter, und der Geruch des Versagens klebt an Menschen meines Alters länger. Und trotz all meiner Machenschaften – ehrlich, Anya, es war nie gegen dich persönlich gerichtet – sind Win und du noch zusammen. Du hast gewonnen. Ich habe verloren. Glückwunsch.«
    Charles Delacroix klang verbittert und hoffnungslos, und das sagte ich ihm auch.
    »Wie soll ich mich denn sonst fühlen? Du hast doch meine Nachfolgerin kennengelernt. Wieso bist du entlassen worden? Hast du sie schmieren müssen, oder hat es ihr einfach nur Spaß gemacht, mich ein letztes Mal zu demütigen?«
    Ich gab zu, dass Geld den Besitzer gewechselt hatte. »Wissen Sie, was Bertha Sinclair über Sie sagte?«, fragte ich.
    »Nur Furchtbares, nehme ich an.«
    »Nein. Sie sagte, ihr Wahlkampfteam hätte immer wieder auf der Geschichte mit Win und mir herumgeritten, weil es Ihnen so viel ausgemacht hätte. Die Wähler, meinte Bertha Sinclair, hätten sich viel weniger an der Sache gestört als Sie.«
    Eine Weile schwieg Charles Delacroix. Er runzelte die Stirn, dann lachte er. »Möglich. Eine gute Lektion, leider zu spät. Und, wo bist du die ganzen Monate überhaupt gewesen? An einem Ort, der gut für dich war, wie ich sehe.«
    Ich sagte, das dürfe ich ihm nicht verraten. »Das könnten Sie irgendwann gegen mich

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