Edelherb: Roman (German Edition)
erwiderte, das wäre sie nicht, doch ich merkte, dass sie mir nicht zuhörte. »Ach, Annie, was soll ich nur tun?«
»In Bezug auf was?«, fragte ich.
»Ich wollte dich nicht mit diesen ganzen Sachen belästigen, denn du hast ja deine eigenen Probleme. Aber das ist alles eine einzige Katastrophe!« Die Katastrophe im Leben meiner besten Freundin ließ sich folgendermaßen aufschlüsseln:
1 ) Ihre Eltern waren katholisch, daher hatte von vorneherein festgestanden, dass sie das Kind behalten würde, obwohl Scarlet sich da gar nicht sicher war.
2 ) Ihre Eltern sagten, sie würden Scarlets Collegeausbildung nicht bezahlen (»und schon gar keine Schauspielschule!«), nun da sie sich derart hatte besudeln lassen.
3 ) Ihre katholische Mutter wollte tatsächlich, dass sie Arsley heiratete, und drohte ihr, sie ansonsten aus dem Haus zu werfen.
4 ) Die Theater- AG wollte sie nicht mit aufs Foto nehmen (»Nach allem, was ich für die getan habe!«, sagte Scarlet entrüstet).
5 ) Wenn Scarlet das Kind nicht vor dem Schulabschluss bekäme, würde Holy Trinity ihr verbieten, bei der Entlassungsfeier öffentlich aufzutreten.
6 ) Arsley hing ihr ständig in den Ohren, sie solle zu ihm zurückkommen, und sie hatte Angst, ihm irgendwann nachzugeben.
Scarlet seufzte.
Ich bemühte mich, nicht egoistisch zu sein, sondern alles aus Scarlets Warte zu betrachten. Ich schlug ihr vor, dass sie vielleicht doch zu Arsley zurückkehren sollte, wenn sie ihn noch mochte.
»Annie, ich hasse ihn! Ich weiß wirklich nicht, was ich mir dabei gedacht habe.« Sie überlegte. »Ich glaube langsam, dass ich das dümmste Mädchen der Welt bin.«
»Scarlet, sag so was nicht!«
»Aber es stimmt. Manchmal sehe ich mich im Spiegel an, und ich bin so aufgedunsen und ekelig, dass ich wegschauen muss. Dann denke ich: Scarlet Barber, du hast im letzten Jahr einen schlimmen Fehler nach dem anderen gemacht.«
Ich erwiderte, dasselbe hätte ich noch vor nicht allzu langer Zeit von mir gedacht.
»Aber ich bin tausendmal schlimmer als du! Denn dir wurde das alles auferlegt. Ich habe es aber ohne Zwang getan.« Sie hielt inne. »Ich kann Gable wirklich nicht ausstehen, aber es ist so: Die furchtbare, traurige, lächerliche Wahrheit lautet, dass ich allein bin. Ich bin so einsam, Annie. Und manchmal kommt es mir vor, als ob Gable der einzige Mensch in der Welt ist, der sich wenigstens ein bisschen freut, mich zu sehen.«
Ich legte den Arm um sie. »Damit eins klar ist: Ich freue mich immer, dich zu sehen«, sagte ich. »Und wenn es mit deinen Eltern hart auf hart kommt, kannst du immer noch bei Natty und mir wohnen. Du allein oder mit dem Kind.«
Scarlet drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Wirklich, Annie? Meinst du das ernst?«
»Natürlich. Das ist das Beste daran, keine Eltern und nicht mal einen Vormund zu haben. Ich treffe alle Entscheidungen selbst. Du läufst bei mir allerdings Gefahr, möglicherweise Zeuge eines Gewaltverbrechens zu werden. Aber wir haben mehr als genug Zimmer.«
»Ich finde es furchtbar, wenn du so makaber bist«, sagte Scarlet. »Aber wahrscheinlich wundere ich mich nur, weil du überhaupt so was sagst. Sonst bist du immer so verschlossen. Selbst mir gegenüber.«
Ich war vor kurzem zu dem Schluss gekommen, dass Verschlossenheit nicht die beste Lebensdevise war. »Nana hat immer gesagt: Man kümmert sich um seine Familie. Und du bist meine Familie, Scarlet. Viel mehr als diese kriminelle Sippe, mit der ich blutsverwandt bin. Wir sind beste Freundinnen seit dem Tag, als wir uns in Miss Pritchetts Klasse nach dem Alphabet hinsetzen mussten …«
»Balanchine, Anya. Barber, Scarlet.«
»Natty und ich haben dich lieb. Leo hatte dich auch lieb …«
Scarlet schlug die Hand vor den Mund. »Ach, bitte, bitte hör auf! Ich möchte nicht noch mehr weinen. In den letzten zwei Jahren habe ich kaum noch trockene Augen gehabt.«
Der Bus hielt an unserer Haltestelle. Das Volumen von Scarlets Rock und Bauch, zusammen mit ihren hohen Absätzen, machte es ihr schwer, sich vom Sitz zu erheben. Ich reichte ihr meine Hand.
Spätnachts, nach der Party, kam Win noch zu mir in die Wohnung. Wir hatten uns zwar gerade noch gesehen, doch ich nahm an, der Hauptgrund für sein Kommen war, dass er es nun durfte – er war jetzt offiziell volljährig, die Sperrstunde galt nicht mehr für ihn. Wir gingen in mein Zimmer, um Natty nicht zu wecken, die bereits zu Bett gegangen war. Wir hatten beide Hunger, aber es war nicht viel
Weitere Kostenlose Bücher