Edelherb: Roman (German Edition)

zu essen im Haus. Win entdeckte den Schokoriegel auf meiner Kommode. »Was ist das?«
    Ich erklärte, dass ich den Riegel im Park gekauft hätte. »Du kannst ihn gerne haben, wenn du willst, aber er schmeckt wahrscheinlich furchtbar.«
    Ich ging in die Küche, um Wasser zu holen. Im ersten Moment kam nichts aus dem Hahn, ein furchtbares Röcheln tönte aus der Leitung. Ich fragte mich, ob heute der Tag war, an dem das Wasser ausging. Doch schließlich begann es zu laufen.
    Als ich zurückkehrte in mein Zimmer, untersuchte Win gerade den Schokoriegel. Er hatte die Banderole abgenommen und hielt mir das in Goldfolie gewickelte Stück hin. »Guck mal, die ist nicht von Balanchine«, sagte er. »Die Banderole sieht zwar so aus, aber darunter ist was anderes.«
    »Ja, das habe ich mir schon gedacht«, sagte ich. »Den Riegel habe ich vorm Little Egypt gekauft. Die Verpackung war ein bisschen anders, deshalb dachte ich mir schon, dass es wahrscheinlich ein No-name-Produkt ist.«
    »Das ist kein No-name-Produkt.« Win hielt mir den in Goldfolie gewickelten Riegel hin, sodass ich es lesen konnte: »Bitter Schokolade, hergestellt für Bitter Schokoladen GmbH, München«.
    »Bei der Beerdigung hat jemand gesagt, Bitter wäre schon immer die viertgrößte Schokoladendynastie in Deutschland gewesen«, sagte ich leise. »Genaugenommen ist es die Familie von Mickeys Frau. Du kannst dich doch an Sophia erinnern …« Sophia Bitter Balanchine. Sophia M. Bitter Balanchine. Sophia Marquez Bitter Balanchine, die ehemalige Sophia Marquez Bitter, von der Theos älteste Schwester nicht viel hielt. Sophia Marquez Bitter, die mal mit Yuji Ono verlobt gewesen war …
    Wo auch immer ich gewesen war, sie war vorher da.
    Bitter Schokolade unter einer Balanchine-Banderole.
    Wer hätte die Möglichkeit, die gesamte Produktion vergiften zu lassen?
    Wer hätte die Möglichkeiten gehabt, an drei Orten Auftragsmorde durchführen zu lassen?
    Wen würde Yuji Ono mehr schützen als mich?
    Ich ließ den Riegel zu Boden fallen. Da er dünn und trocken war, zerbrach er in mehrere Teile.
    Es lag auf der Hand. Ich war so dumm gewesen.
    Wieder einmal.
    Ich musste mich hinsetzen.
    »Annie, ist alles in Ordnung?«, fragte Win.
    Ich wollte wieder lügen, ihm sagen, es ginge mir nicht gut, wir würden uns am nächsten Tag wiedersehen; dann würde ich in mein Zimmer gehen, die Tür schließen und das alles allein mit mir ausmachen. Aber, wie ich schon zu Scarlet gesagt hatte, diese Einstellung hatte mir nicht gutgetan – die Verschlossenheit, meine ich. Win wusste bereits viele fürchterliche Dinge über mich, und trotzdem war er noch da.
    Ich holte tief Luft. »Was ist, wenn Sophia Bitter diejenige war, die die Schokolade mit Fretoxin versetzt hat? Das war ungefähr zu der Zeit, als sie nach New York kam, um Mickey zu heiraten. Und Theos Schwester sagte, Sophia wäre früher mal mit Yuji Ono verlobt gewesen.«
    Win nickte. »Aber Jacks hat es gestanden, oder?«
    »Das hat ihm aber keiner wirklich geglaubt«, sagte ich. »Ich nehme an, irgendein Familienmitglied hat ihn überredet, das zu gestehen, weil er wegen der Schüsse auf den Sohn des Staatsanwalts eh ins Gefängnis gekommen wäre.«
    »Ach ja,
der
«, sagte Win. »Der, der damals dachte, er würde zum Schulball gehen.
    »Ja,
der
 – du.« Ich hielt inne und küsste ihn auf den Mund. »Die Sache ist, Jacks hätte so oder so in den Knast gemusst. Es könnte also genauso gut jemand anders gewesen sein.«
    Natty kam in die Küche. Sie trug ihren Schlafanzug und rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln. »Wenn Bitter Schokolade in Deutschland wirklich die viertgrößte Firma ist, dachte Sophia vielleicht, sie könnte ihrer Familie zu noch mehr Macht verhelfen, wenn sie das Geschäft auf Amerika ausdehnt. Pass auf: Sie heiratet Mickey, nur um nahe genug dran zu sein und die Balanchines zerstören zu können. Oder um zumindest die Firma zu übernehmen.«
    »Seit wann bist du denn wach?«, fragte ich Natty.
    »Seit gerade. Ihr beiden seid so laut. Hallo, Win«, sagte sie.
    »Natty, mein Mädchen«, grüßte Win. »Die Frage lautet: Hat Mickey ihr geholfen, oder ist das auch für ihn ganz neu?«
    »Und: Hat sie Leos Tod in Auftrag gegeben?«, fügte Natty hinzu. »Und versucht, Annie und mich umbringen zu lassen?«
    »Abgesehen von Yuji Ono ist sie, glaube ich, die Einzige, die genug Einfluss hat, um so etwas zu organisieren«, sagte ich.
    Natty seufzte.
    »Und was tun wir jetzt?«, fragte Win.
    Wir. Das