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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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war vermessen von ihm, dennoch fühlte ich mich dadurch besser. »Ich weiß es noch nicht«, sagte ich. Wenn Sophia wirklich diejenige war, die Leo auf dem Gewissen hatte, würde ich möglicherweise sehr schlimme Dinge tun müssen. Doch wie Charles Delacroix gesagt hatte: Zuerst musste ich ganz sicher sein. Und ich musste herausfinden, wer mit ihr unter einer Decke steckte. Auch wenn es angenehm war, diese Dinge mit Win und Natty zu besprechen, würde ich ihnen gegenüber doch nicht zugeben, dass ich eventuell jemanden würde töten müssen. »Ich gehe Jacks besuchen«, sagte ich. »Er könnte Informationen haben. Er nervt mich schon seit Monaten, ich solle zu ihm kommen.«
    Ich kniete mich hin, sammelte die verstreuten Stückchen der Bitter Schokolade ein und warf sie in den Müll. Dann nahm ich die Goldfolie. Als ich sie einstecken wollte, nahm Natty sie mir ab. Sie faltete sie in der Mitte, so dass sie fast quadratisch war, dann knickte sie weiter. Als sie sie mir zurückgab, hatte die Folie die Form eines kleinen goldenen Drachen.
    »He, wo hast du das denn gelernt?«, fragte Win.
    »Im Hochbegabten-Lager«, erklärte sie.
    Da sieht man es, dachte ich. War doch nicht umsonst gewesen.



XV. Ich besuche Rikers Island
    Montags und dienstags war keine Besuchszeit in Rikers Island. Am Mittwoch ging ich auch nicht hin, weil der Besuchsplan sich nach dem Anfangsbuchstaben des Nachnamens richtete. Nach kurzer Recherche hatte ich herausbekommen, dass Jakov Piroschki donnerstags besucht werden konnte. Außerdem hatte ich mir eine ermüdend detaillierte Mitteilung über die Kleiderordnung zu Gemüte führen müssen: Unter anderem verboten waren Badeanzüge, durchsichtige oder gerippte Kleidung, Stretchstoffe, Hüte, Kapuzen und Uniformen. Zusätzlich war dort festgehalten: »Besucher in Rikers müssen Unterwäsche tragen.« (Es bestand ohnehin nicht im Entferntesten die Möglichkeit, dass ich ohne hingegangen wäre.)
    Das Verbot von Uniformen rief mir in Erinnerung, dass ich nicht mehr Schülerin von Holy Trinity war. Mit einer Uniform war das Leben so viel einfacher gewesen. Als ich mich an jenem Morgen anzog, wurde mir klar, dass ich mir einen neuen Bekleidungsstil, eine Art eigene Uniform zulegen musste. Bloß was? Der Sinn einer Uniform war es, die eigene gesellschaftliche Stellung zu symbolisieren. Weder plante ich einen Collegebesuch, noch war ich weiterhin Schülerin. Bei meiner langen Liste von Vergehen war es unwahrscheinlich, dass ich jemals Kriminologin würde. Ich saß nicht mehr in Liberty ein. Ich arbeitete nicht mehr auf einer Kakaoplantage. Ich musste nicht mehr auf meinen Bruder aufpassen. Oder auf meine kleine Schwester. Natty schien zunehmend besser in der Lage, für sich selbst zu sorgen.
    Momentan war ich nicht mehr als ein Mädchen mit einem berüchtigten Nachnamen und dem einen oder anderen persönlichen Racheplan.
    Doch was zog man an, wenn man den Tod seines Bruders rächen wollte?
    Mit dem Bus musste man einmal umsteigen, um nach Rikers zu gelangen. Dort ging ich zur Anmeldung, anschließend wurde ich in einen Raum geführt, wo Tische und Stühle im Boden verankert waren. Ich hätte Jacks lieber hinter einer Plastikscheibe besucht und mit ihm am Telefon gesprochen, so wie man es in den alten Filmen sieht, aber wahrscheinlich wurde mein Cousin für nicht gefährlich genug gehalten, um solche Maßnahmen wert zu sein.
    Ich nahm Platz, und gute zehn Minuten später wurde Jacks in den Raum geführt.
    »Danke, dass du gekommen bist, Annie«, sagte er. Seit ich meinen Cousin zum letzten Mal gesehen hatte, war sein Aussehen stark verändert. Er hatte sich den Schädel rasiert. Obwohl seine Nase verheilt war, konnte man sehen, dass sie mehrfach gebrochen war. Ein Wangenknochen wirkte verstörend flach. Über der Augenbraue konnte ich eine frisch genähte Wunde erkennen. »Ich sehe nicht mehr so toll aus wie früher, Cousinchen, was?«
    »Besonders schön warst du nie«, sagte ich, obwohl er mir irgendwie leidtat. Er war immer so eitel gewesen, was sein Aussehen betraf.
    Jacks lachte und nahm mir gegenüber am Tisch Platz.
    Natürlich wollte ich so einiges von ihm wissen, aber bei Jacks war es am Besten, wenn man ihn reden ließ.
    »Nun bist du also doch gekommen«, bemerkte er.
    Ich erinnerte ihn daran, dass er mich immerhin schon seit Monaten darum bat.
    Er schüttelte den Kopf. »Nee, deshalb bist du aber nicht hier. Für Jacks hat keiner was übrig. Du bist bestimmt immer noch sauer, weil ich auf deinen

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