Edelherb: Roman (German Edition)
Simon Green.«
Das war der letzte Name, den ich von Jacks zu hören erwartet hätte. »Woher kennst du Simon Green?«
»Ich habe ihn damals in unserer Wohnanlage kennengelernt, als wir noch Kinder waren.«
»In eurer Wohnanlage? Worauf willst du hinaus?«
»Auf nichts. Nur dass ich vielleicht nicht der einzige Bastard in der Familie bin.«
»Was willst du damit sagen?«
»Hattest du noch nie einen Verdacht?«
»Was für einen Verdacht?«
»Dass Simon Green möglicherweise mit Yuri verwandt sein könnte. Oder sogar mit deinem Vater. Und wenn das stimmt, könntest du ihm dann trauen …?«
Ich stand auf und schlug Jacks in sein hässliches, malträtiertes Gesicht. Durch die monatelange körperliche Arbeit war ich kräftig, ich spürte, dass in seinem Kiefer etwas brach.
Ein Wachmann stürzte herbei und zog mich fort von Jacks. Dann wurde ich gebeten, Rikers Island zu verlassen.
»Schon gut, Anya. Tut mir leid! Ich wollte deinem Vater gegenüber nicht respektlos sein«, rief Jacks verzweifelt in meinem Rücken. »Ich kann hier nicht bleiben! Du weißt, dass ich nichts mit den Vergiftungen zu tun hatte, ich dürfte gar nicht hier sein. Du musst mir helfen! Ich sterbe hier drin, Annie! Du kannst doch den Vater deines Freundes bitten, mir zu helfen!«
Ich drehte mich nicht mehr um, da ich von der Wache zum Ausgang geschoben wurde. Doch selbst wenn ich mich hätte umdrehen können, hätte ich es nicht getan.
Das war das Problem mit Jacks. Er würde einfach alles behaupten. Daddy sagte immer, dass Menschen, die alles behaupten, getrost ignoriert werden könnten.
Doch was hatte Daddy schon gewusst? Nun, da ich älter war, fragte ich mich langsam, wie viel von dem, was er mir erzählt hatte, lediglich Spruchweisheiten gewesen waren.
Wie erfolgreich es Jacks gelungen war, meine Gedanken zu vergiften!
Daisy Gogol wartete vor dem Besuchsgebäude auf mich.
Auf der Busfahrt nach Hause war es nicht besonders kalt, dennoch begann ich zu zittern.
»Was ist, Anya?«, fragte sie.
Ich sagte ihr, dass der Mann, den ich besucht hatte, meinen toten Vater beleidigt hatte.
»Dieser Mann ist doch offenbar ein Verbrecher«, bemerkte Daisy.
Ich nickte.
»Und ein Lügner?«
Ich nickte erneut.
Daisy zuckte mit ihren breiten Schultern. »Ich denke, du kannst ihn ruhig vergessen.«
Sie legte ihren schweren Arm um mich und zog mich an ihre eindrucksvoll muskulöse Brust.
Daisy hatte recht. Was Jacks über Daddy angedeutet hatte, konnte unmöglich wahr sein. Ich wollte Mr. Kipling nicht danach fragen. Ich wollte es nicht wiederholen müssen. Ich wollte nicht, dass meine Schwester es jemals hören musste. Ich wollte es aus meinem Kopf löschen. Ich wollte es in der Kammer ablegen, wo sich all das befand, was ich in der Schule gelernt hatte und nie mehr gebrauchen würde: die Zeilen der Hekate, der Satz des Pythagoras und die Frage von Daddys Untreue. Weg damit, weg!
(Wenn ich eine Tochter hätte, wäre mein erster Rat an sie, dass absichtliches Augenverschließen fast immer ein Fehler ist.)
Als ich nach Hause kam, musste ich irgendwas tun, um meine Gedanken oder wenigstens meine Hände abzulenken. Ich beschloss, Imogens Habseligkeiten aufzuräumen. Sie hatte nicht viel – Bücher, Kleidung, Toilettenartikel –, doch ich dachte, ihre Schwester würde sich bestimmt darüber freuen. Hätte es sich um Natty gehandelt, hätte ich ihre Besitztümer auf jeden Fall haben wollen. Ich fragte mich, was aus Leos Sachen geworden war …
In Imogens Nachtschrank fand ich das Exemplar von Dickens’
Bleak House
, das Natty und ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatten. Wie lange das schon her zu sein schien.
Bleak House
war ein längerer Roman, Imogen hatte nur rund zweihundert Seiten geschafft. Die Arme würde niemals erfahren, wie die Geschichte weiterging.
Gerade wollte ich Imogens Handtasche in eine Kiste legen, als mir darin ein in Leder gebundenes Buch ins Auge fiel. Ich schlug es auf. Es war das Tagebuch, von dem Natty gesprochen hatte. Typisch Imogen, ein Tagebuch auf Papier zu führen. Ich wollte ihr nicht nachschnüffeln, doch interessierte mich, wie ihre letzten Monate gewesen waren. Sie war immer eine gute Freundin gewesen, und sie fehlte mir.
Ich blätterte in den Seiten. Ihre Handschrift war mir vertraut – klein, weiblich, nach rechts geneigt.
Das Tagebuch setzte vor zwei Jahren ein. Größtenteils beschrieb Imogen, was sie gerade las. Da ich nicht gerade eine Leseratte war, fand ich das ziemlich langweilig.
Weitere Kostenlose Bücher