Edelherb: Roman (German Edition)
etwas zu sagen, und kurz glaubte ich sogar, sie hätte vielleicht eine absolut einleuchtende Erklärung für das, was geschehen war. Andere Kirchgänger schoben sich an uns vorbei. Dann kniff sie entschlossen die Lippen aufeinander. Sie lächelte noch breiter als zuvor, rückte ihren albernen Hut zurecht und musterte mich dann mit zusammengekniffenen Augen. »Jetzt sehen wir uns also zum ersten Mal
wirklich
«, sagte sie und zog ihre Handschuhe aus. »Ist das eine Erleichterung! Natürlich weiß ich von dem Versehen, das du gerade angesprochen hast. Das ist schon öfter passiert. Eigentlich sollen die Arbeiter beide Einwickelpapiere von Bitter entfernen, aber sie sind einfach zu faul, Anya. Manchmal vergessen sie es.«
»Aber warum verkauft ihr Schokoladenriegel von Bitter als Balanchine?«
Sie schüttelte den Kopf und machte ein seltsam klickendes Geräusch mit der Zunge, das Ähnlichkeit mit dem Rasseln einer Klapperschlange hatte.
»Hast du die Anschläge auf Natty und mich in Auftrag gegeben?«
Sophia schwieg.
»Hast du Leo umgebracht?«
»Leo starb durch eine Autobombe. Sagt Yuji Ono. Damit habe ich nichts zu tun.«
Ich versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu behalten. »Also hast du jemanden damit beauftragt, Natty und mich zu töten?«
»Was ist, wenn ich sagen würde, dass ich nur dich töten lassen wollte? Wäre das dann eine geringere Beleidigung? Du bist ein törichtes Mädchen, Anya Balanchine. Yuji Ono spricht immer in den höchsten Tönen von dir, aber ich fand dich immer nur sehr enttäuschend.«
»Mir ist egal, ob du mich magst. Ich muss nur wissen, ob ich dich umbringen muss oder nicht.«
Sophia ließ die Unterlippe fallen und tat entsetzt. »Heute ist Sonntag, Anya! Wir sind in der Kirche!« Sie hielt inne. »Außer Leo ist niemand gestorben, vielleicht kannst du das, was passiert ist, als Warnung verstehen.«
»Was ist mit deinem eigenen Cousin? Theo ist sehr schwer verletzt.«
»Er hätte sich nicht einmischen sollen. Diese Seite meiner Familie habe ich immer gehasst und die mich ebenfalls. Aber das ist alles Vergangenheit, Anya. Was hast du jetzt vor? Wenn du mich umbringst, wäre das reine Zeitverschwendung. Meine Verwandten aus Deutschland würden sich dich und Nataliya holen, gegen uns Bitters seht ihr Balanchines doch aus wie hoppelnde Häschen.«
Sie legte die Arme um mich und flüsterte mir ins Ohr: »Mit Leos Tod hatte ich nichts zu tun. Das war mein Mann. Er ist ein sentimentaler Spinner. Als du den Antrag von Yuji ablehntest, ergriff Mickey die Gelegenheit und ließ sich von Yuji verraten, wo Leo war. Dann ließ er ihn umbringen.« Sie machte einen Schritt zurück, dann trat sie wieder vor und küsste mich auf die Lippen. »So eine Verschwendung! Yuri Balanchine war ein alter Mann, und Leo hat dort in Japan niemanden gestört.«
»Das verstehe ich nicht. Warum überhaupt einen von uns umbringen? Wir sind alle nicht bei Balanchine Chocolate aktiv.«
Sophia lachte. »Weißt du, was das Problem von Balanchine Chocolate ist? Nicht dass die Firma zum organisierten Verbrechen gehört, sondern dass eure Familie so
un
organisiert ist. Es ist völlig unverständlich, dass eine derart unorganisierte Firma wie Balanchine Chocolate so eine Vorherrschaft am Markt hat. Hast du irgendeine Vorstellung, wie schwierig das für mich gewesen ist? Ich dachte, wenn ich deinen Cousin heirate, hätte ich eine Chance, alles wieder ans Laufen zu bringen …«
Bitter Schokolade gehe es schon seit einiger Zeit schlechter, erklärte sie. Der deutsche Markt sei zu hart umkämpft, die einzige Möglichkeit, die Firma zu retten, sei die Expansion in andere Länder. Die seit dem Tode meines Vaters wahrgenommene Unruhe bei Balanchine Chocolate machte Amerika zum naheliegenden Ziel. Zusammen mit ihrem Schulfreund Yuji Ono hatte Sophia einen Plan ersonnen, wie sie Chaos auf den amerikanischen Markt bringen, dann zuschlagen und alles unter sich aufteilen konnten. Sie kam auf die Idee mit der Kontaminierung. Sophias Hochzeit mit Mickey Balanchine sei ebenfalls ein taktischer Zug gewesen, ersonnen von Yuji Ono. Der beschädigte Balanchine-Bestand würde ersetzt werden müssen – warum nicht mit der Marke Bitter? Ganze Lager waren gefüllt mit Bitter-Schokolade.
Es hätte nur ein Problem gegeben. Irgendwann hätte Yuji Ono seine Meinung geändert und die Balanchines nicht mehr zerstören wollen.
Als Sophia das erzählte, verdrehte sie die Augen. »Er sah Potential in dir. Und er überzeugte Mickey davon.
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