Edelherb: Roman (German Edition)
hatte ich Menschen angeschrien.
»Sieh es mir noch einmal nach. Nur ein einziges Mal«, flehte Mr. Kipling. »Ich liebe dich wie mein eigen Fleisch und Blut. Sicher gibt es andere Anwälte, vielleicht auch bessere. Aber deine Geschäfte sind für mich nicht einfach Geschäfte. Deine Belange sind mein Ein und Alles. Dein Vater war der beste Mann, den ich je kannte, und ich habe ihm versprochen, in jeder Hinsicht auf dich aufzupassen. Das weißt du. Wenn ich dich jemals wieder verraten sollte, und sei es unbewusst, hast du mein Einverständnis, mich auf der Stelle rauszuwerfen. Gott sei mein Zeuge: Ich werde mich selbst entlassen.«
Ich schaute meinen Anwalt an. Er hatte die Arme weit ausgebreitet, eine flehende Geste. Ich näherte mich ihm und ließ mich von ihm umarmen. Aus verschiedenen Gründen konnte ich mich nicht überwinden, von Simon Green zu sprechen.
XVI. Ich gehe zur Kirche
Abgesehen von den Beerdigungen, war ich seit Heiligabend nicht mehr in einer Kirche gewesen. Anfangs hatte ich völlig einleuchtende Gründe für mein Schwänzen – das Untertauchen, die Zeit in Liberty, der Hausarrest –, doch als ich wieder frei war, merkte ich, dass ich schlicht nicht hingehen
wollte
. Vielleicht klingt es krass, wenn ich sage, dass ich meinen Glauben verloren hatte, aber eine bessere Beschreibung fällt mir nicht ein. So lange war ich fromm gewesen, und was hatte es mir gebracht? Leo war tot.
(Also, warum ging ich an jenem Sonntag zur Kirche? Hoffte ich, die Glut meines verlorenen Glaubens neu zu entfachen? Alles andere als das.) Der Grund, warum ich zur Kirche ging, war höchst gottlos. Ich hoffte, dort Sophia Bitter zu treffen, denn ich war zu dem Schluss gekommen, dass mein Feind Charles Delacroix recht hatte: Die beste Möglichkeit zu klären, ob Sophia beteiligt war, bestand darin, sie mit dem Vorwurf zu konfrontieren. Selbst wenn sie mich anlog, würde mir diese Lüge etwas verraten. Und in einer Kirche konnte sie mich nicht umbringen.
Natty hatte mich angewiesen, sie zu wecken, damit wir zusammen zur Kirche gehen könnten, aber ich wollte weder sie noch sonst jemanden bei mir haben. Früh machte ich mich auf den Weg, so dass ich zu Fuß zu St. Patrick gehen konnte, statt den Bus zu nehmen.
Während des Gottesdienstes hörte ich nicht zu. Von der Empore aus hatte ich Sophia Bitter entdeckt. Sie saß ungefähr in der Mitte und trug einen roten Hut mit einer spinnenähnlichen Verzierung. Mickey war nicht bei ihr.
Kaum war die Messe vorbei, lief ich die Treppe hinunter, um mit ihr zu sprechen.
»Sophia!«, rief ich.
Gelassen drehte sie sich um, so als würde sie Walzer tanzen. Als ich ihr gegenüberstand, konnte ich erkennen, dass auf ihrem Hut keine Spinne saß, sondern zwei purpurrote Schleifen übereinander angebracht waren. »Anya«, begrüßte sie mich. »Wie nett, dich zu sehen. Entschuldige mich. Ich bin auf dem Weg zur Beichte.« Sie trat an mich heran und küsste mich auf beide Wangen. Ihre Lippen waren warm und klebrig von Lippenbalsam. Ich fragte sie, wo Mickey sei, und sie antwortete, seit Yuris Tod gehe er nur noch zur Kirche seines Vaters oder lasse die Messe sonntags ganz ausfallen. »Nun«, sagte sie, »ich muss mich jetzt zur Beichte anstellen.«
Ich fragte sie, ob irgendwas besonders schwer auf ihrer Seele laste.
Sie neigte den Kopf zur Seite und lächelte schwach. Dann sah sie mir in die Augen, und ich blickte freundlich und nichtssagend zurück. »Das ist ein Witz, oder?«
Ich sprach leicht wie ein Schmetterling: »Cousine Sophia, es ist etwas sehr Sonderbares passiert. Ich war auf der Museumsmeile, wo ein Mann Schokolade verkaufte. Natürlich fragte ich ihn, ob er Balanchine Extra Herb habe. Das ist meine Lieblingssorte, musst du wissen. Seit Nana tot ist und Jacks ins Gefängnis kam, bringt sie uns niemand mehr vorbei.« Ich hielt inne und beobachtete Sophia. Ihr Gesichtsausdruck war so leer wie meiner, doch ich meinte, dass ihre Pupillen sich leicht weiteten. Was hatte Dr. Lau noch mal über erweiterte Pupillen gesagt? »Ich kaufte also diesen Riegel und vergaß ihn dann komplett, bis mein Freund Win – erinnerst du dich an ihn? – Schokolade essen wollte. Er zog die Balanchine-Banderole ab, und du wirst niemals erraten, was darunter war! Es war ein Schokoladenriegel von Bitter! Ich dachte: Bitter, das ist doch die Familie von Cousine Sophia. Ist doch sonderbar, dass Schokolade von Bitter unter einer Banderole von Balanchine landet.«
Sophia öffnete den Mund, um
Weitere Kostenlose Bücher