Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
reichte ihm ein Glas Wasser. Er betätigte den
Schalter, der das Kopfteil aufrichtete, und umfasste es mit beiden Händen.
Nach dem
ersten Schluck verzog er den Mund. »Wasser! Immer dieses Wasser. Wenn es nur Wein
wäre! Von den eigenen Reben.«
In kleinen
Schlucken leerte er das Glas und schob es zurück auf die Ablage. »Ich habe deiner
Mutter so viel Kummer bereitet.«
Angela griff
nach der Handtasche und ging ins Bad. Als sie zurückkehrte, waren seine Augen geschlossen,
und der Atem ging schnell und flach wie der eines gefangenen Tieres. Die Arme lagen
wie traurige, weiße Stecken auf der karierten Bettwäsche. Sie klappte die Handtasche
auf. Für den letzten Schluck konnte sie sich das Hinausgehen sparen.
5
Heiligabend 1986
Der Nachmittag zog sich dahin wie
ein gewöhnlicher griesegrauer Wintertag. Keine 16-Jährige zappelte wie ein Kind
den Geschenken entgegen. Sowieso hatte sie sich nichts anderes gewünscht als Geld
für den Segelschein im Sommer. Irgendeine Kleinigkeit würde die Mutter bestimmt
dazugeben. Im schönsten Fall die neusten Hits von Madonna. Mit dem Walkman auf dem
Bauch lag sie auf dem Bett und schaute zu, wie der Wind die Schneegraupel gegen
das Fenster pustete, während sie Falco lauschte, der sich nach seiner Jeanny verzehrte.
Ob es im Text wahrhaftig um Vergewaltigung und Mord ging, wie die anderen behaupteten?
Sie spulte zurück. Ohne die Kopfhörer hätte sie die Mutter wirtschaften gehört,
die in der Küche alles für das Essen nach dem Kirchgang vorbereitete. Dieses Jahr
müssten sich die Eltern allein aufmachen. Sie war fest entschlossen, ihren Willen
durchzusetzen und den Gottesdienst zu verweigern. Eine Bewegung lenkte ihren Blick
zum Flokati hinunter. Billy hatte sich erhoben, schüttelte das gescheckte Fell und
streckte die Vorderbeine wie eine Katze, bevor er sich auf die Keulen hockte, um
sich mit der Hinterpfote ausgiebig die Kehle zu kratzen. Noch ein ungeduldiges Gähnen,
und der Hund tappte zum Bett, stupste sie mit der Schnauze an, fiepte und zeigte
unmissverständlich seinen Wunsch an. Lustlos nahm sie den Kopfhörer ab. Es gab Schöneres
als Gassigehen bei diesem Sauwetter. Aber Billy war das Beste, was ihr passieren
konnte. Niemals hätte sie ihren Hund vernachlässigt.
Im Flur
begegnete sie dem Vater. Dass er getrunken hatte, spürte sie, bevor sie den Alkohol
roch. Früher war er nicht so gewesen. Da hatte er den Wein gekeltert. Nicht gesoffen.
Zur Stunde war der Pegel zu gering, um den Gang oder die Stimme zu verändern. Doch
seinem Blick sah man es an. So wie er stockend innehielt und die Tochter beglotzte,
die zu den grün gefärbten Haaren ihre punkigsten Klamotten trug.
»Zieh dir
wenigstens zu Weihnachten was Anständiges an. So gehst du mir nicht in die Kirche!«
»Ich komme
eh nicht mit.«
»Du tust,
was ich sage!«
Er wollte
nach ihr greifen. Geduckt huschte sie an ihm vorbei. Billy knurrte verängstigt und
wich dem Fußtritt aus.
»Scheißköter!
Der kommt zurück ins Tierheim. Oder kriegt gleich die Spritze.«
Nichts Neues!
Sie wusste, man durfte diese Drohungen nicht ernst nehmen. Nüchtern ließ sich der
Vater sogar dazu hinreißen, Billy zu streicheln. Trotzdem blieb die Sorge, und sie
verbrachte bange Stunden in der Schule und sah beim Heimkommen immer zuerst nach,
ob der Hund im Hof war.
Sie wartete,
bis er ins Büro zurückging, bevor sie in die Winterstiefel stieg und die Jacke überstreifte.
Billy winselte und kratzte am Türrahmen. Als sie die Tür öffnete, prallte sie beinahe
mit einem jungen Mann zusammen. Vor Überraschung schoss ihr das Blut ins Gesicht.
Harry! Ausgerechnet jetzt, mit platt gedrückter Frisur und miserabel geschminkt,
wie sie war. Als er vor sechs Jahren im Weingut nebenan als Winzerlehrling angefangen
hatte, hatte sie sich von einer Sekunde auf die andere in den störrischen Schulabbrecher
verliebt. Niemand hatte ihm etwas zugetraut. Niemand außer der Nachbarin, der er
die Ausbildungsstelle verdankte. Henriette Medzig hatte den Jungen von Anfang an
ins Herz geschlossen. Ein Rotschopf hält zum anderen, sagten die Leute. Und der
Vater, der Weingroßhändler und Kommunalpolitiker Onno Halvard, hatte dem Sohn beigestanden.
Sonst hätte niemand einen Pfennig darauf verwettet, dass aus dem Bub etwas würde.
Dass er das Zupacken lernte auf dem Weingut. Und alle rieben sich die Augen, mit
welcher Begeisterung er an die Arbeit ging. Und darüber, dass er es nun, als 25-jähriger
Bursche, sogar zum
Weitere Kostenlose Bücher