Edelweißpiraten
gelernt.
Die Wohnung des alten Mannes war klein. Sie schien nur aus einem einzigen Zimmer zu bestehen. Später, als ich öfter dort war, stellte ich fest, dass es noch ein Bad, eine winzige Küche und einen Balkon gab, aber an jenem Tag sah ich nur dieses eine Zimmer und das Wenige, das darin war. Ein Tisch mit ein paar Stühlen, ein Bett, eine Kommode, ein Schrank und ein Käfig mit zwei Kanarienvögeln auf der Fensterbank: Das war alles. Auf der Kommode fiel mir ein seltsamer Gegenstand auf, der in einer mit Samt ausgekleideten Schachtel lag. Ich war mir nicht sicher, aber es sah aus wie eine alte Spieluhr.
Die Möbel wirkten billig, wie im Schlussverkauf erstanden. Ich musste daran denken, wie ich selbst mit meinen Eltern lebe. Wir haben ein Haus am Stadtrand. Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich dort immer wohlfühle, aber – es ist immerhin ein Haus. Und dann das hier! Der Gedanke, dass sich in der Kommode und dem Schrank vielleicht der ganze Besitz des alten Mannes befand, deprimierte mich. Das soll alles sein, was nach einem so langen Leben bleibt?, ging es mir durch den Kopf.
Ich drehte mich zu ihm um. Er hatte die Tür inzwischen geschlossen, stand aber noch immer da mit der Hand auf der Klinke. Anscheinend wusste er nicht, was er sagen sollte. Mir fiel auch nichts ein.
»Sie – Sie waren gar nicht mehr bei Ihrem Bruder«, versuchte ich schließlich einen Anfang.
»Nein. Das ging in den letzten Tagen nicht.« Er ließ die Klinke los und deutete auf sein Bett. »Ich war krank. Heute bin ich zum ersten Mal wieder auf den Beinen.«
Er sah tatsächlich sehr blass aus. Ich musste daran denken, wie er tagelang in diesem kleinen Zimmer neben seiner Kommode und seinem Schrank im Bett gelegen hatte, ohne nach draußen zu können. Es war eine traurige Vorstellung.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte er.
Ich erzählte die Geschichte mit dem Friedhofswärter. Er schien sich darüber zu freuen, dass ich so viel Energie in die Suche gesteckt hatte. Nachdem er sich alles angehört hatte, ging er zum Tisch und winkte mich zu sich.
»Möchtest du vielleicht einen Kakao trinken – jetzt, wo du einmal hier bist?«
Ich wehrte hastig ab. »Nein, lieber nicht. Ich wollte auch gar nicht lange bleiben.«
Er lächelte. »Aber du bist doch bestimmt nicht gekommen, um nur Hallo zu sagen und sofort wieder zu verschwinden? Na komm, setz dich wenigstens.«
Wir setzten uns an den Tisch. Er stand direkt an einem kleinen Fenster, durch das man in den Garten sehen konnte, der zu dem Wohnheim gehörte. Es war sehr still. Zu still für meinen Geschmack.
»Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt«, sagte der alte Mann, nachdem er zwei Tassen geholt und auf den Tisch gestellt hatte.
»Daniel. Wie mein Großvater.«
»Daniel?« Irgendwie schien ihn dieser Name zu berühren – oder an etwas zu erinnern. Er sah aus dem Fenster, eine ganze Zeit lang, dann strich er sich über die Augen.
»Sie haben mir von Ihrer Geschichte erzählt, und dasssie mich interessieren könnte«, sagte ich, als sein Schweigen zu lange dauerte. »Deshalb bin ich gekommen. Ich würde sie gerne hören.«
Er sah mich an, und es kam mir vor, als wäre er ganz woanders gewesen und müsste erst in sein kleines Zimmer zurückfinden. Dann stand er auf, ging zu der Kommode, zog ein Buch aus einer der Schubladen und reichte es mir.
»Das ist meine Geschichte«, sagte er.
Ich nahm das Buch und öffnete es. Es war sehr alt, das konnte ich auf den ersten Blick sehen. Die Seiten waren bedeckt mit einer Handschrift, die fast wie gemalt wirkte – wie von jemandem, der selten schrieb und sich gerade deshalb besondere Mühe damit gab. Die Blätter waren vergilbt, viele hatten Wasserflecken, manche waren an der Seite eingerissen, aber mit großer Sorgfalt wieder geklebt.
»Wann haben Sie das alles geschrieben?«, fragte ich, nachdem ich eine Weile darin geblättert hatte.
»Oh, vor unendlich langer Zeit. So ist es mir jedenfalls früher vorgekommen. Inzwischen scheint es mir gar nicht mehr so lange her zu sein, es ist irgendwie näher gerückt. Seltsam, oder?«
Ich wollte ihm das Buch zurückgeben, aber er wehrte ab.
»Nein, nein, behalt es. Es ist für dich.«
»Sie wollen es mir einfach so geben?«
»Du wirst schon vernünftig damit umgehen. Das weiß ich.«
Ich schlug das Buch wieder auf und ließ die Blätter durch die Finger gleiten.
»Warum geben Sie es ausgerechnet mir?«
»Oh, lies es einfach«, sagte er und sah wieder aus dem
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