Edelweißpiraten
weit. Tom hat gesagt, Kuhlmann dreht jeden Abend die gleiche Runde, und zwar immer zur selben Zeit. Wir haben gedacht: So viel deutsche Ordnung und Gründlichkeit muss bestraft werden! Und Frettchen hat die entscheidende Idee gehabt, wie wir’s machen.
Gestern Abend, als es dunkel wurde, haben wir uns an Toms Block getroffen. Da gibt’s im Innenhof ’ne Stelle, wo die Fenster vom Erdgeschoss höher liegen, sodass man nicht direkt in sie reinsehen kann. Aber davon lässt sich Kuhlmann nicht aufhalten, hat Tom erzählt. Er springt einfach hoch und zieht sich am Fenstersims nach oben, damit er trotzdem spionieren kann.
Das ist die Stelle, die wir uns ausgesucht hatten. Wir sind zu den Fenstern hin. Alle Rollos waren unten, sodass uns keiner gesehen hat. Frettchen ist Kralle auf die Schultern gestiegen und hat einen Fenstersims mit Leim bepinselt. Dann sind wir gegenüber in Deckung gegangen und haben gewartet.
Nicht lange, und Kuhlmann ist gekommen. Wie Tom gesagt hat: von einem Fenster zum nächsten, und überall hat er sich die
Nase platt gedrückt. Widerlicher Kerl. Irgendwann war er bei dem Fenster, das wir bearbeitet hatten. Wir haben die Luft angehalten. Und wirklich: Er ist hochgesprungen, hat sich am Sims festgehalten und nach oben gezogen. Durch den ganzen Hof haben wir ihn keuchen hören. Als er lange genug geschnüffelt hatte, wollte er loslassen und runterspringen. Aber es ging nicht mehr, seine Finger klebten fest wie Beton. Frettchen hatte verdammt guten Leim besorgt.
Es war ’n Bild für die Götter. Er hat mit den Beinen gestrampelt und versucht, wenigstens eine Hand freizukriegen. Aber da war nichts zu machen. Dann hat er ein paar Minuten regungslos in der Gegend rumgehangen. Wahrscheinlich hat er sich den Kopf zerbrochen, wie er aus der Sache rauskommt, ohne sich zu blamieren. Anscheinend ist ihm aber nichts eingefallen, denn irgendwann hat er angefangen, um Hilfe zu rufen. Erst ganz leise, damit nicht der ganze Block aufmerksam wird. Aber leise um Hilfe zu rufen, hat noch selten einem genützt. Deswegen ist er immer lauter geworden. Hat wohl auch langsam Panik gekriegt.
Wir haben in unserem Versteck gehockt und mussten aufpassen, dass wir nicht laut loslachen. Er sollte ja nicht wissen, wem er die Bescherung zu verdanken hat. Dann ist eins von den Rollos hochgegangen, direkt über uns. Ein Mann hat rausgesehen.
»Komm ma her!«, hat er über die Schulter nach drinnen gerufen, nachdem er Kuhlmann ’ne Zeit lang angestarrt hatte.
Von hinten konnten wir die Stimme von seiner Frau hören: »Wieso? Wat is?«
»Jetz komm ma her! Dat Schwein hängt am Fenster!«
Seine Frau ist näher gekommen. »Wat redeste denn? Wat fürn Schwein?«
Sie hat sich neben ihn gestellt. Beide haben rausgesehen. Wir konnten sie lachen hören.
»Jeschieht dem recht, dem Hund«, hat der Mann gesagt.
Kuhlmann hat wieder um Hilfe gerufen.
»Komm, lass en hängen«, hat die Frau gemeint und ist vom Fenster weg. »Un mach dat Dingen wieder runger!«
Im nächsten Moment knallte das Rollo wieder nach unten. Ich hatte Bauchschmerzen, so musste ich mir das Lachen verkneifen. Den anderen ging’s genauso. Wir haben uns gekugelt in unserem Versteck.
Dann sind noch mehr Fenster aufgegangen. Viel Mitleid hat’s nicht gegeben für Kuhlmann. Eher im Gegenteil. Die Leute hassen Typen wie ihn. Sie trauen sich zwar nicht, was gegen sie zu machen, aber Hilfe kriegen die auch keine, wenn sie in der Patsche stecken. Da können die lange warten.
Na, irgendwann haben sich doch welche erbarmt. Wahrscheinlich Parteigenossen, die gibt’s hier natürlich auch. Bald war der halbe Innenhof voll mit Schaulustigen. Die Sache ist uns zu heiß geworden. Wir haben auf ’ne günstige Gelegenheit gewartet und sind abgehauen.
Heute hat Tom erzählt, was weiter passiert ist. Sie haben alles versucht, um Kuhlmann da runterzuholen, aber nichts hat geholfen. Am Ende mussten sie ihm kochend heißes Wasser über die Hände kippen, da ist er endlich freigekommen. Nur seine Fingerkuppen, hat Tom gesagt, die würden immer noch da kleben, am Fenstersims.
Flint meint, für seinen Geschmack wär’s genau die richtige Samstagabendbeschäftigung gewesen, wir sollten so was ruhig öfter machen. Und: Warum eigentlich nicht? Solange nur Typen wie Kuhlmann dabei zu Schaden kommen, ist es nicht weiter schlimm. Die haben’s nicht besser verdient. Oder?
26. Oktober 1941
Letzte Nacht haben sie die Rosenfelds geholt. Die alten Leute, die über uns wohnen. Weil
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