Edelweißpiraten
sie Juden sind. Von dem Lärm sind wir aufgewacht, meine Mutter und ich. Wir sind raus ins Treppenhaus, um zu sehen, was los ist. Da waren welche von der Gestapo, die haben uns zurückgescheucht. Es gibt nichts zu sehen, haben sie gesagt. Und wir sollen uns gefälligst nicht um Sachen kümmern, die uns nichts angehen. Meine Mutter war kalkweiß im Gesicht. Sie hat Angst vor diesen Gestapotypen.
Wahrscheinlich sitzen die Rosenfelds jetzt in einem von den Judenzügen, die immer vom Deutzer Bahnhof abgehen. Nach Osten fahren die. Da kommen sie in Altersheime, heißt es. Wo sie unter sich sind. Und nicht so in Gefahr wie hier.
Jedenfalls konnte ich nicht mehr schlafen letzte Nacht. Bin aufgestanden und hab mich auf die Fensterbank gesetzt. Alles Mögliche ist mir durch den Kopf gegangen. Ich hab rübergesehen zur Venloer Straße, und dann ist mir auf einmal die Sache mit Herrn Goldstein eingefallen. Das ist nur ’n Stück die Straße runter gewesen. Ich hab ewig nicht mehr dran gedacht, aber das mit den Rosenfelds hat mich wieder dran erinnert.
Es war vor drei Jahren, in der Kristallnacht, wie’s die Leute inzwischen nennen. Ich war 11, und ich weiß noch, dass ich schon im Bett gelegen hab, als der Lärm draußen losging. Mitten in der Nacht ist das gewesen. Ich bin rausgerannt, obwohl mein Vater mir nachgebrüllt hat und mich zurückhalten wollte. Auf der Venloer Straße war der Lärm am größten, deshalb bin ich dahin gelaufen. Und da hab ich gesehen, was los war. Überall waren Männer von der SA unterwegs und haben die Schaufenster von
den jüdischen Geschäften eingeworfen. Andere sind in die Wohnungen gerannt, haben die Juden auf die Straße gezerrt und verprügelt. Oben konnte man die Frauen schreien hören.
Ich war erst total verwirrt, konnte gar keinen klaren Gedanken fassen. Aber dann ist mir Herr Goldstein eingefallen. Er hatte so ’n kleinen Kiosk die Straße runter. Tom und ich haben oft davorgestanden, aber nie das Geld gehabt, uns was zu kaufen. Deswegen hat er uns ab und zu was zugesteckt. Kleine Süßigkeiten oder so. Wir konnten ihn gut leiden. Und: Er war Jude!
Ich bin hingelaufen. Auch sein Kiosk war zertrümmert. Die Sachen lagen auf der Straße, die SA-Leute haben sie mit ihren Stiefeln zertreten. Aber das Schlimmste war Herr Goldstein selbst. Er ist zwischen den Sachen rumgekrochen und wollte retten, was er konnte. Die SA-Leute haben ihn angeschrien, er soll damit aufhören, aber er hat’s nicht getan. Da haben sie ihn getreten. Er ist zusammengebrochen, dann hat er sich wieder aufgerappelt. Er wollte irgendwas vom Boden aufheben – genau vor einem der SA-Männer. Und der hat ihn mitten ins Gesicht getreten.
Ich weiß noch, dass ich zu ihm gerannt bin. Aber nicht mehr, ob ich was gesagt hab. Er hat auf dem Rücken gelegen und mich angestarrt. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich erkannt hat. Sein Gesicht war voller Blut. Und dann hat er mir plötzlich das, was er aufgehoben hatte, hingehalten. Es ist ’ne kleine Spieluhr gewesen. Ich hab sie genommen, aber bevor ich sonst was tun konnte, hat mich der SA-Mann am Kragen gepackt und mir ’n Stoß gegeben, dass ich über die halbe Straße geflogen bin.
Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Nur, dass Herr Goldstein verschwunden ist. Ich hab ihn nie wiedergesehen. Aber seine Spieluhr, die hab ich noch. Sie liegt in der Schublade. Ich hab sie behalten, weil sie mich an ihn erinnert. Warum er ausgerechnet sie retten wollte, hab ich nie erfahren. Vielleicht war sie ein Geschenk. Oder ein Erbstück oder so was.
Jedenfalls ist mir das alles wieder eingefallen, als ich auf der Fensterbank gehockt und rausgesehen hab. Ich hab überlegt, ob Herr Goldstein vielleicht auch in einem von diesen Altersheimen ist. Als ich dann heute mit den anderen zusammen war, hab ich den Langen danach gefragt. Aber der hat nur gelacht und gemeint, ich soll mir keinen Bären aufbinden lassen. Da im Osten gäb’s alles Mögliche, aber bestimmt keine Altersheime. Wahrscheinlich müssten die Juden malochen, bis sie nicht mehr können. Und dann … Er hat mit den Schultern gezuckt, und wir haben über was anderes geredet.
Ich find’s schade, dass die Rosenfelds nicht mehr da sind. Wer weiß, was da jetzt für Leute einziehen. Wahrscheinlich irgendwelche Spitzel, hat Flint gesagt. Würden sie oft so machen. Ich sollte also mal verdammt vorsichtig sein in nächster Zeit.
Aber das braucht er mir nicht zu sagen. So viel hab ich inzwischen wirklich selbst
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