Edelweißpiraten
mitkriegt. Weil’s uns Spaß macht, die Leute auf die Palme zu bringen. Manche grinsen, wenn sie’s hören, aber viele werden auch fuchsteufelswild. Ist schon interessant. Da brauchst du nur ’n kleines Wort zu sagen, und an der Reaktion siehst du sofort, mit wem du’s zu tun hast.
Jedenfalls geht’s uns gut im Moment. Wir haben, was wir wollten: Der Streifendienst ist weg. Keiner schreibt uns vor, was wir nach der Arbeit zu tun und zu lassen haben. Wir sind unsere eigenen Herren. Und: Warum sollte es eigentlich nicht so bleiben? Die Nazis haben doch genug zu tun mit ihrem Krieg und mit den Juden und was sie sonst noch so vorhaben. Die haben keine Zeit für Leute wie uns. Oder?
26. Mai 1942
Gestern und vorgestern ist wieder unsere Pfingstfahrt zum Felsensee gewesen. Sollte der Höhepunkt des Jahres werden, so wie letztes Mal. War’s am Anfang auch. Aber dann ist die totale Katastrophe draus geworden.
Am Sonntagmorgen haben wir uns getroffen und sind rausgefahren. Mit der Bahn nach Oberkassel und dann zu Fuß ins Siebengebirge. Das tollste Wetter haben wir gehabt. Als wir hochgestiegen sind, haben wir das Felsenseelied gesungen: »Ganz einsam und verlassen an einer Felsenwand, da liegt ein stilles Wasser, der Felsensee genannt. Hier treffen sich Piraten vom Stamme Edelweiß, mit ihren hübschen Mädels von Köln am Rhein allein.« Dann hat der See unter uns gelegen, und als wir über den Pfad runtergestiegen sind, haben wir den neuen Schlachtruf angestimmt, den wir seit dem Sieg über den Streifendienst haben: »Wir sind die Herren der Welt, die EP von Ehrenfeld«, wobei EP für Edelweißpiraten steht. Hat natürlich ’n großes Hallo gegeben, als wir da runtermarschiert kamen, denn die anderen, die schon da waren, kannten den Spruch noch nicht.
Mir ist plötzlich klar geworden, wie viel sich verändert hat, seit wir zum ersten Mal zum Felsensee gefahren sind. Damals waren wir Neulinge, Tom und ich. Schüchtern und ängstlich sind wir gewesen, und jeder konnte auf zehn Kilometer gegen den Wind riechen, dass wir frisch von der HJ kamen.
Diesmal war’s anders. Inzwischen tragen wir unsere Piratenklamotten, als wär’s das Selbstverständlichste von der Welt. Wir haben lange Haare und gehen aufrecht durch die Gegend. Und wir kennen jetzt viele von den anderen, von unseren Wochenendfahrten
her. Keiner kommt mehr auf die Idee, sich über uns lustig zu machen. Die haben uns begrüßt, als wären wir schon ewig dabei. Als wären wir erwachsen geworden in dem Jahr.
Der Tag ist vorbeigegangen mit Schwimmen und Essen und Raufereien und allem möglichen Blödsinn, der uns grade eingefallen ist. Als es dunkel wurde, haben wir uns am Lagerfeuer zusammengehockt und erzählt, was los war in letzter Zeit. Da waren auch ’n paar Typen aus Wuppertal, schon ein, zwei Jahre älter als wir. Die haben gemeint, dass sich bei ihnen jetzt die SS höchstpersönlich um Leute wie uns kümmert.
Wir sind natürlich hellhörig geworden. »Die SS!«, hat Flint gesagt. »Was habt ihr angestellt?«
»Wieso angestellt? Wir haben gar nichts angestellt, Mann! Außer das Übliche eben. Aber der Streifendienst wird nicht mehr fertig mit uns. Deshalb schicken sie jetzt die SS.«
»Und was heißt das?«, hat Flocke gefragt.
»Kannst du dir ja wohl denken, was das heißt. ’n Scheiß heißt das. Die Typen schrecken vor gar nichts zurück, und es ist ihnen auch schnurzegal, wie alt einer ist. Die prügeln einfach drauflos. Gegen ’ne Begegnung mit denen ist ’ne Schlacht mit dem Streifendienst das reinste Zuckerschlecken. Passt bloß auf, dass ihr ihnen nie über den Weg lauft!«
»Wir hatten zuletzt ’ne Schlacht mit dem Streifendienst«, hat der Lange gesagt. »Seitdem lassen sie sich nicht mehr blicken.«
Ein anderer von den Wuppertalern hat den Kopf geschüttelt. »Kein gutes Zeichen«, hat er gesagt. »Glaubt bloß nicht, dass sie euch in Ruhe lassen. Wenn der Streifendienst nicht mehr kommt, kommt bald was Schlimmeres.«
Das hat sich gar nicht gut angehört. Sie haben von ihren Erlebnissen mit der SS erzählt, und da ist uns ganz anders geworden.
»Und noch was solltet ihr nicht glauben«, hat einer von den
Wuppertalern gesagt. »Nämlich, dass euch wer hilft, wenn’s ernst wird. Die Leute sind Duckmäuser. Sie haben Angst vor der Gestapo und vor den Sondergerichten und was weiß ich. Schleichen nur noch durch die Gegend und haben Panik, was Falsches zu sagen und was Falsches zu tun.«
»Klar«, hat Flint gemeint. »Deshalb
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