Edelweißpiraten
haben sie uns mit der Auflage entlassen, wir sollten uns so schnell wie möglich bei der HJ melden, sonst gäb’s noch größeren Ärger.
Als wir endlich wieder draußen waren, sind wir uns ziemlich gerupft vorgekommen. Wir waren wütend darüber, wie sie uns behandelt haben. Als wären wir der letzte Dreck. Immer dieses Anschnauzen und Zuschlagen, ohne dass man sich dagegen wehren kann! Alles, was bleibt, ist so ’ne kalte Wut, von der man gar nicht weiß, wo man damit hin soll.
Wir haben drüber geredet, wie’s jetzt weitergehen soll mit uns. Je mehr wir drüber nachgedacht haben, umso kleinlauter sind wir geworden. Denn genau das, was wir immer vermeiden wollten, ist passiert. Sie wissen, wer wir sind und wo sie uns finden können. Ab jetzt haben wir keine Ruhe mehr vor ihnen.
Nur eins haben wir uns in die Hand versprochen: Zur HJ geht keiner mehr. Da müssen sie schon mit Panzern kommen und uns mit Gewalt zu dem Verein schleppen. Aber das werden sie nicht tun. Schließlich werden die Panzer an der Front gebraucht.
Und die ist weit weg.
Etwa eine Woche später besuchte ich den alten Gerlach wieder. Inzwischen hatte ich die ersten Seiten seines Tagebuchs gelesen, und als ich an seinem Tisch saß, konnte ich spüren, wie gespannt er auf meine Meinung war. Um sich nichts anmerken zu lassen, ging er geschäftig hin und her – soweit es sein Alter noch zuließ. Aber mich direkt zu fragen, vermied er. Dafür war er zu rücksichtsvoll, das hatte ich inzwischen gelernt.
»Sagen Sie: Wie viele Leute haben das Tagebuch eigentlich gelesen?«, fragte ich, als er sich endlich gesetzt hatte.
Er sah mich erstaunt an. »Niemand«, sagte er.
»Sie meinen – ich bin der Erste? Aber warum?«
Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Nach dem Krieg wollte keiner so etwas hören. Alle waren damit beschäftigt, nach vorne zu schauen und sich ein neues Leben aufzubauen. Niemand wollte an die Zeit erinnert werden. Also habe ich das Buch irgendwann weggeschlossen. Und mit der Zeit habe ich es selbst vergessen.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Es war aber so, du kannst es glauben oder nicht. Ich hatte alle Hände voll zu tun, mich durchzuschlagen. Die Vergangenheit störte da nur. Außerdem tat es viel zu weh, daran zu denken. All die Freunde, die ich verloren hatte und nie wiederfinden würde! Ich wollte das nicht. Ich habe das Buch jahrzehntelang nicht angefasst.«
»Aber weggeworfen haben Sie es auch nicht.«
Er lächelte. »Nein, das habe ich nicht übers Herz gebracht. Und heute bin ich froh darüber. Seit ich nicht mehr arbeite, sind die Erinnerungen zurückgekehrt, eine nach der anderen, und jetzt denke ich Tag und Nacht daran.« Er betrachtete den Teller mit Keksen, den er auf den Tisch gestellt hatte, und dann lachte er plötzlich. »Weißt du, es ist schon komisch. Ich weiß manchmal heute nicht mehr, was ich gestern zu Mittag gegessen oder am Abend getan habe. Aber an die Ereignisse von damals – vor über sechzig Jahren –, an die erinnere ich mich wieder in allen Einzelheiten. Ist das nicht merkwürdig?«
Ich wusste nicht recht, wovon er sprach. Ich ließ den Blick durch sein Zimmer wandern, und ein paar Dinge fielen mir auf, die ich bei meinem ersten Besuch noch nicht bemerkt hatte. Vor allem, dass es keine Bilder von ihm gab. Nicht ein einziges.
Wie seltsam es doch ist, dachte ich. Ich kenne ihn so, wie er heute ist. Und durch sein Tagebuch kenne ich ihn aus der Zeit, als er jung war. Aber über all die Jahrzehnte dazwischen weiß ich nichts. Es ist wie eine lange Reise, von der man nur den Aufbruch und die Ankunft mitbekommt.
»Haben Sie nie geheiratet?«, fragte ich. »Oder Kinder bekommen?«
Im nächsten Moment hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Er sah mich an, und sein Blick war mit einem Mal so traurig, dass ich mir wünschte, diese dumme Frage nie gestellt zu haben.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Es geht mich nichts an.«
Er schüttelte den Kopf und winkte ab. »Nein, nein, schon gut. Ich habe nie geheiratet. Das ging nicht mehr. Und Kinder habe ich auch keine. Obwohl –«, die Trauerverschwand aus seinen Augen, »einmal habe ich doch eins gehabt. Irgendwie zumindest. Aber das ist lange her.«
Er verschränkte die Arme und sah aus dem Fenster. Einige Zeit saß er so, ohne sich zu rühren. Erst als ich das Tagebuch aus dem Rucksack holte und auf den Tisch legte, wurde er aufmerksam.
»Hast du es schon zu Ende gelesen?«, fragte er.
»Nein«, sagte ich und
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