Edelweißpiraten
mehr.
Deswegen ist die Angst größer als die Wut, glaub ich. Aber wie lange noch? Ob es sich irgendwann ändert?
10. Juli 1942
Die Bombennächte sind jetzt unser ständiger Begleiter. Es ist jedes Mal das Gleiche: Erst heulen die Sirenen, dann donnert die Flak, dann fallen die Bomben. Die Leute springen aus dem Bett, rennen auf die Straße und versuchen, in irgend ’nem Bunker oder Keller unterzukommen. Da hocken sie dann und hoffen, dass sie keinen Volltreffer kriegen und verschüttet werden – und natürlich, dass ihr Haus stehen bleibt. Das ist ganz schön hart, besonders für die Älteren, die nicht mehr gut laufen können.
Für uns Edelweißpiraten sind die Bunker wichtige Treffpunkte. Vor allem der Takubunker hier in Ehrenfeld, das ist so was wie unser neuer Stammsitz. Fast jeden Abend sind wir da, oft sogar die ganze Nacht. Wir treffen viele aus den anderen Gruppen und tauschen Neuigkeiten mit ihnen aus. Ist fast unser zweites Zuhause geworden.
Rein in den Bunker gehen wir aber nie, nicht mal dann, wenn die dicksten Bomben fallen. Wir bleiben immer draußen, irgendwo davor. Der Grund sind die Luftschutzwarte. Die haben in den Bunkern das Sagen und kontrollieren, dass alles seine Ordnung hat. Und sie sperren ihre Lauscher auf. Kommt nämlich vor, dass da unten mal einer die Nerven verliert und sagt, was er denkt. Und wenn’s nur so was ist wie: »Kann der verfluchte Krieg nicht endlich vorbei sein?« Das reicht schon. Ein paar Tage später hat er die Vorladung zur Gestapo im Briefkasten. Wegen »Wehrkraftzersetzung«.
Klar, dass es gefährlich ist, draußen zu sein, wenn die Bomben fallen. Aber wir sagen uns: Gefährlich ist unser Leben sowieso. Jeder Augenblick kann der letzte sein, und es kann einen überall treffen. Also was soll’s? Warum nicht die Zeit, die bleibt, wenigstens
nutzen? Da oben ist frische Luft, wir können frei atmen, keiner kontrolliert uns, während es unten stickig und staubig und spitzelverpestet ist.
Und außerdem: Wenn eine von den großen Sprengbomben bis unten durchschlägt, hilft auch kein Bunker. Dann fällt alles zusammen, und man ist verschüttet. Und die Vorstellung, da unten lebendig begraben zu sein, ist für Leute wie uns so ziemlich das Schlimmste. Da bleiben wir lieber oben. Kriegen lieber da was ab und sterben unter freiem Himmel als wie ein paar Wühlmäuse im Dreck zu krepieren.
Und noch was ist mir klar geworden in letzter Zeit: Auf eine Art sind die Angriffe gar nicht so schlecht für uns, so komisch es klingt. Denn seitdem es damit losgegangen ist, haben SS und HJ alle Hände voll zu tun, in dem Chaos für Ordnung zu sorgen und die Leute bei der Stange zu halten. Deshalb sind wir im Moment nicht so wichtig für sie. Normalerweise wären sie wie der Teufel hinter uns her – jetzt, wo sie wissen, wer wir sind, und nachdem wir der Aufforderung, zur HJ zu gehen, nicht gefolgt sind. Aber so kriegen wir noch ’ne Gnadenfrist.
Ist schon komisch. Wahrscheinlich sind wir die Einzigen, die den Bomben noch was Gutes abgewinnen.
11. August 1942
Seit über einem Jahr bin ich jetzt bei Ostermann. In der Zeit ist es immer schlimmer geworden auf der Arbeit, vor allem für die Lehrlinge. Wir kommen morgens hin und bleiben bis spät am Abend. So lange, wie’s den Vorarbeitern passt. Sechzig Stunden in der Woche sind normal, manchmal auch mehr.
Und die Vorgaben, die wir schaffen müssen, werden immer strenger. Wir produzieren für die Wehrmacht und die Marine.
Da heißt’s: immer mehr, immer schneller, immer besser. Deshalb kommt’s auch oft zu Unfällen. Die Leute sind müde und passen nicht auf. In den letzten Monaten sind einige Finger draufgegangen. Zum Glück war keiner von mir dabei.
Wir Lehrlinge sehen nicht ein, warum wir uns ’n Bein dafür ausreißen sollen, dass sie sich an der Front besser gegenseitig abknallen können. So wie’s damals auch Flint und Kralle gesagt haben. Also machen wir gerne ein bisschen halblang, wenn grade keiner hinsieht. Oder bleiben ’n Tag weg, wenn’s uns zu bunt wird – Krankheiten sind schnell erfunden. Oder es steht mal eine von den Maschinen still, weil zufällig an ’ner Stelle, wo keiner rankommt, ein Werkzeug reingefallen ist. An Ideen fehlt’s uns nicht. Vor allem an den Tagen, wo wir ’n paar Ohrfeigen zu viel kassieren. Da laufen wir zu echter Hochform auf.
Den älteren Arbeitern brauchen wir damit nicht zu kommen. Die ticken in der Hinsicht anders als wir. Denen ist es total wichtig, korrekte Arbeit
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