Edelweißpiraten
uns, die musste einfach raus. Und mit den Fäusten ging es am leichtesten.«
Ich beobachtete, wie er die Vögel fütterte. Sie waren sein ganzer Stolz. Ab und zu ließ er sie aus dem Käfig, dann flogen sie durch den Raum und liefen auf dem Schrank herum. Wenn er pfiff, kamen sie zurück und setzten sich auf seinen Finger. Sein liebstes Spiel bestand darin, sie anzuhauchen. Dann schüttelten sie sich, plusterten sich auf und zeigten ihr Gefieder.
Er war immer ganz versunken, wenn er das tat. Ich mochte es, ihm dabei zuzusehen. Es wirkte so friedlich.
14. Juni 1943
Nachdem’s beim ersten Mal so glatt ging mit dem Verteilen der Flugblätter, haben wir die Sache in den Wochen danach noch ein paarmal wiederholt. Damit die Leute nicht glauben, alles wär nur ’n dummer Streich gewesen. Damit sie sehen, dass System dahintersteckt. Dass es ernst gemeint ist.
Erst ist lange Zeit nichts Schlimmes passiert. Wir waren immer vorsichtig, keiner hat uns erwischt oder ist uns auf die Schliche gekommen. Nur: Was hinter den Kulissen los ist, kriegen wir natürlich nicht mit. Und das muss ’ne Menge gewesen sein. Letzte Nacht haben wir’s am eigenen Leib zu spüren gekriegt.
Wie jedes Jahr hat wieder unsere Pfingstfahrt zum Felsensee angestanden, gestern Morgen haben wir uns auf den Weg gemacht. Erst ist alles gut gegangen. Wir hatten uns vorbereitet, damit’s nicht wieder so läuft wie letztes Jahr, als die SS uns am Bahnhof geschnappt hat. Flint hat gefälschte Fahrtenausweise besorgt, für die Kontrollen. Und wir haben uns unauffällig angezogen, unsere echten Klamotten bis zum Felsensee im Rucksack gelassen. So fallen wir weniger auf, haben wir gedacht – außer mit unseren Haaren. Aber die haben wir gelassen, wie sie sind. So weit geht unsere Vorsicht dann doch nicht.
Am See waren mindestens doppelt so viele Leute wie letztes Mal. Bestimmt ’n paar Hundert. Inzwischen kennen wir fast alle. Wenn wir den Pfad runterkommen, gibt’s erst mal ’ne stürmische Begrüßung und ausführliches Palaver. Fast so, als wären wir ein Jahr
lang von zu Hause weggewesen und würden jetzt zurückkommen. Der schönste Moment ist der, wenn wir aus den Büschen treten, und da ist die Sonne und der Geruch vom Feuer und das Glitzern vom Wasser, und da sind die anderen, und wir wissen: Jetzt sind wir wieder da, wo wir hingehören und wo uns keiner was antut. Da, wo alle auf unserer Seite sind. Wo wir ganz wir selbst sein können.
Im Lauf des Tages haben wir mitgekriegt, dass bei den Wuppertalern, mit denen wir letztes Jahr zusammengesessen hatten, und auch bei ein paar anderen schlimme Sachen passiert sind in letzter Zeit. Sie wollten nicht so recht raus mit der Sprache, aber abends am Feuer haben sie’s dann doch erzählt.
»Verflixt üble Kiste«, hat einer von ihnen gesagt. Es war der, der uns letztes Jahr vor der SS gewarnt hat. »’n paar von uns sind deswegen dieses Jahr nicht hier. Sitzen im Bau und warten auf ihren Prozess.«
Das hat uns natürlich erst recht neugierig gemacht. Wir wollten wissen, was passiert ist. Er hat in die Runde gesehen, als wenn er sichergehen will, dass er allen, die am Feuer sitzen, trauen kann. Dann hat er angefangen zu erzählen.
»Letzten November haben wir ’ne Wochenendfahrt nach Düsseldorf gemacht, um da ’n paar Leute zu treffen. Irgendwer muss uns verpfiffen haben. Jedenfalls ist auf einmal die SS dagewesen und hat uns einkassiert. Auf der Polente haben sie uns gefilzt. Dummerweise hatten wir ’n paar Flugblätter dabei, die wir den Düsseldorfern mitbringen wollten. Na ja, hat ’n Riesenaufstand gegeben, könnt ihr euch ja denken. Sie haben uns sofort zur Gestapo gebracht.«
Als er das gesagt hat, war’s mit einem Schlag totenstill. Wir sind inzwischen ja einiges gewöhnt, und so schnell haut uns nichts mehr um. Aber – Gestapo! Das ist ’n Wort, bei dem es einem kalt den Rücken runterläuft. Das flüstert man höchstens. Und hofft, dass man nie was mit denen zu tun kriegt.
»Und dann?«, hat Flocke irgendwann gefragt.
Er hat sie kurz angesehen. Dann hat er den Kopf geschüttelt und ins Feuer gestarrt. »Will ich nicht drüber reden«, hat er nur gemurmelt.
Irgendwie war das schlimmer, als wenn er die abscheulichste Höllenbeschreibung vom Stapel gelassen hätte. Normalerweise geben wir nicht zu, wenn uns was Angst macht. Man geht drüber weg mit ein paar Witzen oder redet daher, als wenn einen alles kalt lässt.
Was muss da passiert sein!, hab ich gedacht. Wenn sogar der
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