Edelweißpiraten
wüsste ich nicht mehr, was ich tue. Aber das wär alles, sie müssten sich keine Sorgen machen.
Zum Glück sind sie weitergegangen – ohne nach oben zu sehen. Tilly und ich, wir haben uns noch ein Wortgefecht geliefert, bis sie außer Sicht waren. Dann sind wir uns allmählich wieder auf die Pelle gerückt, um Flint zu zeigen, dass er weitermachen kann. Ich hätte gern zu ihm hochgesehen, weil ich wissen wollte, ob alles
klar ist, aber wir hatten vereinbart, dass wir das auf keinen Fall tun – egal, was passiert. Damit wir keinen drauf bringen, was da oben vor sich geht.
Ab da hat’s keine Zwischenfälle mehr gegeben, und nach ’ner Weile haben wir Flint die Sprossen wieder runtersteigen sehen. Er hat uns zugenickt, und wir sind zu den Treppen gegangen – jeder für sich, damit wir nicht auffallen. Irgendwie muss er’s geschafft haben, die Flugblätter so anzubringen, dass sie nicht sofort runtersegeln, sondern erst nach ’ner Zeit. Grade als Tilly und ich auf der Treppe waren, ist es losgegangen. Alle Leute sind stehengeblieben und haben nach oben gestarrt, so als könnten sie ihren Augen nicht trauen. Wir haben gemacht, dass wir wegkamen. Denn wir wussten ja: Jetzt dauert’s nicht mehr lang, dann wimmelt’s hier nur so von Polizisten – und Schlimmerem.
Jedenfalls hat Flint recht behalten: Heute redet ganz Köln über die Sache. Wahrscheinlich ist die Gestapo schon dabei, die Leute zu verhören, die um die Zeit im Bahnhof waren. Ich hoffe nur, es erinnert sich keiner an uns. An Flint, wie er die Sprossen hochgestiegen ist. Oder an ein Liebespärchen, das sich irgendwie merkwürdig benommen hat.
Übrigens: Liebespärchen. Ich treff mich gleich mit Tilly – ohne die anderen. Vorher geh ich aber noch zu Flocke und bring ihr ’n paar Blumen vorbei. Als kleines Dankeschön. Dafür, dass sie krank geworden ist.
Die Tage nach Weihnachten waren die letzten, in denen ich den alten Gerlach in seiner Wohnung besuchte – auch wenn ich nichts davon ahnte. Ich spürte zwar, dass es ihm nicht besonders gut ging, aber wir redeten nie darüber, und ich machte mir auch keine Gedanken deswegen.
In jener Zeit ertappte ich mich des Öfteren dabei, wie ich durch die Straßen lief und die Dinge, die ich dort sah, mit dem verglich, was er in seinem Tagebuch geschrieben hatte. Einige Male fand ich mich – ohne dass ich es gewollt hatte, fast als hätten meine Füße mich von allein dorthin geführt – an Orten wieder, die in seinen Aufzeichnungen eine Rolle spielten. Und jedes Mal blieb ich ratlos zurück. Überall traf ich auf eine oberflächliche Betriebsamkeit und fand nichts wieder von den Dingen, über die ich gelesen hatte. Fast schien es, als hätte die Zeit alles ausgelöscht – vollkommen und unwiederbringlich.
»Warum haben Sie das eigentlich getan?«, fragte ich den Alten bei einem meiner Besuche. »Sie und Ihre Freunde? Warum haben Sie sich aufgelehnt, während alle anderen stumm waren?«
»Oh, du darfst das nicht falsch verstehen«, sagte er. »Wir waren keine Helden. Wir haben uns nicht auf die Straße gestellt und gerufen: Kommt, lasst uns unser Land befreien, lasst uns gegen die Tyrannen kämpfen! Wir waren ganz normale junge Leute, die nichts weiter wollten als ihre Freiheit. Aber die war uns eben besonders wichtig.Vielleicht hat uns das von den anderen unterschieden: Wir waren süchtig nach unserer ganz persönlichen Freiheit. Und wir waren entschlossen, jeden zu bekämpfen, der sie uns verweigerte.«
Wenn er so sprach, ging immer eine Veränderung mit ihm vor. Er wirkte dann gar nicht mehr wie ein alter Mann, und sogar sein Husten schien zu verschwinden. Ich dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Und plötzlich wurde mir eines klar: Dieses Wort »Freiheit«, das ihm so viel bedeutete, sagte mir nichts. Ich hätte erklären können, was damit gemeint war, natürlich – ich hätte einen zehnseitigen Aufsatz darüber schreiben können. Aber ich verband kein Gefühl damit, so wie er es tat.
Er schien zu spüren, was in mir vorging. »Vielleicht kannst du das nicht verstehen«, sagte er. »Ihr habt heute alle Freiheiten. Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt – na ja, das meiste zumindest. Damals war es anders. Alles war reglementiert. Schon mit 14 mussten wir zehn, zwölf Stunden am Tag in der Fabrik arbeiten, sechs Tage in der Woche. Und in der restlichen Zeit wurden wir in der HJ herumkommandiert und auf den Krieg vorbereitet. Wir wollten nur raus aus diesen Zwängen und unsere
Weitere Kostenlose Bücher