Edelweißpiraten
Träume von einem freien Leben verwirklichen – egal, wie.«
»Und dabei standen Ihnen die Nazis im Weg?«
»Ja«, sagte er. »Wir hatten nicht viel Ahnung von Politik und diesen Dingen und haben uns auch nicht besonders dafür interessiert – zumindest am Anfang nicht. Zwar haben wir gewusst, dass wir die Nazis nicht ausstehen können, aber das war nur ein Gefühl, wir hätten es gar nicht richtig begründen können. Wir sind in das Ganze hineingerutscht. Die Sache hat sich immer mehr aufgeschaukelt, ohne dass wir es eigentlich wollten.«
»Das heißt: Wenn die Nazis Sie in Ruhe gelassen hätten, dann hätten Sie das alles gar nicht getan?«
Er zuckte mit den Schultern. »Schon möglich«, sagte er dann. »Ich weiß es nicht. Jedenfalls haben sie uns nicht in Ruhe gelassen. Sie konnten es nicht ertragen, wenn jemand anders lebte oder anders dachte, als sie es für richtig hielten. Also haben sie uns verfolgt und bekämpft. Erst die HJ, dann die Polizei, dann die SS und schließlich die Gestapo. Es wurde immer schlimmer und brutaler. Nur –«, er sah mich an und lächelte, »wir waren echte Dickschädel. Deshalb haben sie das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollten. Sie haben uns erst richtig wild gemacht. Was immer sie taten, es führte nur dazu, dass wir es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen wollten. Und so haben wir schließlich den Spieß umgedreht – und angefangen,
sie
zu bekämpfen.«
Er deutete durch das Fenster nach draußen. »Wohin das Ganze führen sollte, wussten wir nicht, wir haben nicht groß darüber nachgedacht. Wir hatten auch keinen Plan oder so etwas. Alles ist spontan passiert, wie es uns gerade einfiel. Eigentlich sind wir immer nur unserem Gefühl gefolgt. Wir wussten, dass wir dann schon irgendwie auf der richtigen Seite stehen würden.«
Als ich an jenem Tag das Wohnheim verließ, machte ich einen Umweg und ging durch den Volksgarten. Es war eisig kalt, aber die Sonne schien, und da, wo der Schnee unberührt war, knirschte er unter den Schuhen. Mitten im Park blieb ich stehen und sah mich um. Ich fragte mich, was von damals geblieben war. Gab es so etwas wie eine Erinnerung in den Bäumen oder in den Mauern? War den Dingen etwas eingeschrieben?
Gaben sie es frei, wenn man danach fragte?
26. Januar 1944
Einen Winter wie diesen hatten wir lange nicht mehr. Seit Wochen nur klirrende Kälte, und es sieht nicht so aus, als würd’s besser in nächster Zeit. Kohlen sind fast überhaupt keine mehr zu haben. Bei uns zuhause heizen wir nur noch ein Zimmer, die meisten anderen machen’s genauso. Zum Glück gibt’s Tilly. Wir schlafen immer abwechselnd bei ihr und bei mir. Da kann das Zimmer ruhig kalt sein, unter der Decke machen wir’s uns schon irgendwie warm.
Aber es ist nicht nur die Kälte, die einem auf die Nerven geht. Inzwischen haben die Leute auch kaum noch genug zu beißen. Die Rationen werden immer kleiner. Für ein vernünftiges Stück Fleisch haut man sich fast gegenseitig den Schädel ein. Brot gibt’s zwar noch ein halbes Pfund am Tag für jeden, aber – na ja, was sich so Brot nennt. Keine Ahnung, was die da alles reinmengen. Sägespäne und altes Laub wahrscheinlich. Jedenfalls nichts, wovon man satt wird.
Die meisten versorgen sich deshalb auf dem Schwarzmarkt. Man redet nicht groß drüber, weil’s verboten ist. »Sabotage an der Versorgung des deutschen Volkes«, wie’s so schön heißt. Um die Sprüche kümmert man sich aber nicht, der Magen ist einem näher als das Volk. Ein schlechtes Gewissen hat deswegen keiner, schon gar nicht hier in Ehrenfeld.
Von uns kennen sich Flint und Kralle am besten mit dem Schwarzmarkt aus. Sie sind inzwischen 18, Kralle seit ein paar
Wochen und Flint kurz danach. Seitdem müssen sie jeden Tag damit rechnen, dass sie zur Wehrmacht kommen und an die Front geschickt werden. Im Betrieb sind sie zwar »uk« gestellt, unabkömmlich, weil’s kriegswichtige Produktion ist. Aber das kann sich jederzeit ändern, wenn den Bossen ihre Nasen nicht mehr passen – dann sind sie fällig.
Natürlich würden sie’s nicht mit sich machen lassen. Wir haben uns geschworen, dass keiner von uns in den Krieg geht und auf irgendwelche Leute schießt, die ihm nie was getan haben. Wenn sie die Einberufung kriegen, hat Flint gesagt, tauchen sie unter. Und zwar so, dass sie keiner findet. Nur müssen sie dann von irgendwas leben. Und da ist es gut, wenn sie sich mit dem Schwarzmarkt schon mal ’n bisschen auskennen. Denn ’ne andere
Weitere Kostenlose Bücher