Edelweißpiraten
kaputtgegangen ist. Es ist ihm nichts mehr geblieben. Er ist am Ende.
»Horst, du musst da raus«, hab ich zu ihm gesagt, nachdem wir ’ne halbe Ewigkeit stumm nebeneinander gesessen hatten. »Du gehörst da nicht hin.«
Er hat den Kopf geschüttelt. »Aus der SS tritt man nicht einfach aus, wenn’s einem nicht mehr passt. So läuft das nicht.«
»Aber – du könntest zu uns kommen. Sie finden dich nicht.«
»Mit Flint unter einem Dach? Vergiss es! Das gäb Mord und Totschlag.«
Ich hab’s noch weiter versucht, aber er hat nicht mit sich reden lassen. Er hat nur noch mal gesagt, ich soll auf mich aufpassen und vorsichtig sein, dann ist er gegangen.
Den ganzen Tag hab ich über ihn nachgegrübelt. Oder besser: über uns. Hab mich an alles Mögliche erinnert, an früher und an das, was wir zusammen erlebt haben. Vor allem ein Gedanke lässt mich nicht los. Angenommen, ich wär die Sportskanone von uns beiden gewesen und sie hätten mich gewollt an dieser Schule statt ihn: Wär’s dann genau umgekehrt gekommen mit uns? Hängt wirklich alles an solchen kleinen Zufällen? Er ist doch kein schlechter Mensch, oder? Er ist doch mein Bruder!
14. November 1944
Vor ein paar Wochen ist uns zum ersten Mal aufgefallen, dass sich noch andere Leute in den Schrebergärten verstecken. Die meisten von ihnen sind Ostarbeiter, die aus den Lagern geflohen sind und jetzt versuchen, irgendwie zu überleben, bis der Krieg vorbei ist.
Der Lange hat erzählt, es gäb inzwischen ein paar Millionen von ihnen im Reich. Die meisten kommen aus Polen oder Russland. Sie werden einfach auf offener Straße geschnappt und hierhergekarrt, und dann müssen sie die gefährlichsten und härtesten Arbeiten machen. Ohne sie wär die Kriegswirtschaft längst zusammengebrochen.
Wir haben uns mit denen, die hier in den Gärten sind, angefreundet. Sie kommen aus dem Lager an der Vogelsanger Straße und haben sich in ’nem Häuschen bei uns in der Nähe eingenistet. Erst waren sie misstrauisch gegen uns, aber dann sind sie aufgetaut. Spätestens als sie gemerkt haben, dass wir keine Nazis sind, sondern genauso arme Schweine wie sie.
Wir helfen uns immer mal wieder gegenseitig. Sie sprechen zwar nicht gut Deutsch, weil sie alle aus Russland kommen, aber es sind herzensgute Leute. Vor allem Goethe ist von ihnen begeistert. Sie singen oft ihre Lieder, wenn sie Heimweh haben, und da kann er nicht genug von kriegen. Es sind traurige, aber total schöne Lieder, und er spielt immer seine Gitarre dazu. Deswegen ist er jetzt auch wieder bei uns. Aber das haben wir ja gewusst, dass er’s nicht lange ohne uns aushält.
Die Russen haben erzählt, wie’s in dem Lager, in dem sie waren, zugegangen ist. In dunklen Baracken hätte man sie zusammengepfercht,
wo sie in drei oder vier Betten übereinander schlafen mussten. Von früh bis spät hätten sie in Fabriken schuften müssen und kaum was zu essen gekriegt. So hungrig wären sie gewesen, dass sie sich Grasbüschel in den Mund gestopft hätten. Und wenn die Aufseher sie dabei erwischt hätten, wären sie auch noch halb totgeprügelt worden.
Als ich das gehört hab, konnte ich nicht verstehen, wie Horst da arbeiten kann – nach allem, was er im Osten erlebt hat. Und es geht mir noch immer nicht in den Kopf. Tilly sagt, sie hätten ihm auf dieser Schule eben sechs Jahre lang ihren Müll eingetrichtert, und so was könnte man nicht einfach aus den Klamotten schütteln. Wahrscheinlich hat sie recht. Aber ich bin trotzdem enttäuscht von ihm.
Wir haben uns dran erinnert, was wir im EL-DE-Haus erlebt haben. Da waren auch viele Ostarbeiter in den Zellen. Sie haben uns geholfen und Mut gemacht, obwohl sie noch schlimmer dran waren als wir. Das haben wir nicht vergessen, und jetzt wollen wir ihnen was davon zurückgeben. Vor ’ner Woche oder so haben wir uns nachts zum Lager geschlichen und ihnen heimlich was unter dem Zaun durchgeschoben. Brot und Wurst und Käse – was wir eben übrig hatten. Als wir uns verdrückt haben, konnten wir sehen, wie sie aus der Dunkelheit kamen, wie Gespenster, und sich die Sachen geholt haben.
Seitdem haben wir’s noch öfter gemacht. Es ist jedenfalls ’ne Aktion, von der wir wissen, dass sie sich lohnt. Anders als mit den Flugblättern und den Parolen an den Wänden. In dem Punkt haben die Kommunisten recht gehabt: Das hat nie was gebracht. Es war für die Katz, die Leute interessieren sich nicht dafür. Das am Lager ist was anderes, da helfen wir wirklich. Auch wenn’s nur
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