Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edelweißpiraten

Edelweißpiraten

Titel: Edelweißpiraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Reinhardt
Vom Netzwerk:
nicht tun. Aber er hat’s noch mal wiederholt, und jetzt war so was Drohendes in seiner Stimme, so was zu allem Entschlossenes, dass ihnen gar nichts anderes übrigblieb, als ihm zu gehorchen.
    Horst hat uns zugenickt, während er die SS-Leute mit seiner Maschinenpistole in Schach hielt. Tilly, Flocke und Tom sind sofort losgerannt, aber ich bin dageblieben. Ich wollte Horst nicht zurücklassen. Wie angewurzelt hab ich am Zaun gestanden.
    »Jetzt hau schon ab, Großer«, hat er gesagt. »Und leb wohl!«
    Ich wollte ihn anschreien, dass er mitkommen soll. Aber als ich ihm in die Augen gesehen hab, war mir klar, dass es sinnlos ist. Er würde nicht mitkommen. Er wollte nicht mehr.
    Tilly und Tom haben sich die Lunge nach mir aus dem Leib geschrien. Sie waren schon an der nächsten Straßenecke und haben auf mich gewartet. Ich hab von ihnen zu Horst gesehen und wieder zu ihnen zurück, dann bin ich ihnen nach. An der Ecke hab ich mich noch mal umgedreht. Horst wurde gerade von anderen SS-Leuten entwaffnet, mehr konnte ich nicht mehr sehen. Dann hat Tom mich mitgezogen.
    Heute hab ich mich den ganzen Tag in der Nähe des Lagers rumgetrieben, weil ich das Gefühl hatte, ich muss was tun. Von Horst hab ich nichts gesehen – natürlich nicht. Wahrscheinlich haben sie ihn längst woanders hingebracht und quetschen ihn
aus. Aber uns wird er nicht verraten, da bin ich mir sicher. Nie und nimmer wird er das tun.
    Ich mach mir nichts vor. Was er getan hat, ist Hochverrat, und darauf steht die Todesstrafe. Aber daran will ich gar nicht denken. Immer, wenn ich’s tue, fällt mir unser Treffen von gestern ein. Wie ich ihn angeschrien hab, und was ich da alles zu ihm gesagt hab. Aber das war doch nicht so gemeint! Es war nur, weil ich wütend gewesen bin und enttäuscht. Ich muss ihm das unbedingt sagen!
    Wir dürfen ihn nicht hängen lassen. Wir müssen ihn da rausholen. Egal, wie. Das sind wir ihm schuldig!

 
    An einem Tag im Januar, als ich aus dem Zimmer des alten Gerlach kam und die Station schon fast verlassen hatte, rief eine der Krankenschwestern mir nach. Ich drehte mich um und sah, wie sie mir ein Zeichen gab, noch einmal zurückzukommen. Sie führte mich in das Schwesternzimmer, dann schloss sie die Tür.
    »Entschuldige, dass ich so hinter dir herrufe«, sagte sie. »Aber ich muss kurz mit dir sprechen. Mir ist aufgefallen, wie oft du hier bist, um Herrn Gerlach zu besuchen.«
    »Ja. Wieso? Ist das nicht in Ordnung?«
    »Doch, doch, keine Angst. Du darfst ihn besuchen, so oft du willst. Mir ist nur nicht ganz klar – in welcher Beziehung du zu ihm stehst. Bist du ein Verwandter von ihm?«
    »Nein. Wir sind nicht verwandt.«
    »Aber was dann?«
    Ich überlegte. Was waren wir eigentlich? Bekannte? Nein, dafür war unsere Beziehung zu besonders, um nur von einer Bekanntschaft zu sprechen. Freunde? Ja, das traf es schon eher. Aber aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich, weil der Altersunterschied zwischen uns so groß war – brachte ich das Wort nicht über die Lippen.
    »Ich bin – sein Schüler«, sagte ich nur. »Ja, so könnte man es nennen.«
    Sie wirkte irritiert, fragte aber nicht weiter nach. »Weißt du – immer wenn Herr Gerlach tagsüber ein paarStunden geschlafen hat, will er anschließend wissen, ob du in der Zwischenzeit da gewesen bist«, sagte sie.
    »Wirklich? Warum? Ich meine – warum erzählen Sie mir das?«
    Sie sah mich nachdenklich an. »Weil du in der ganzen Zeit, die er jetzt hier ist, sein einziger Besucher warst.«
    Ich wollte ihr zuerst nicht glauben. Ich fragte sie, ob es nicht möglich sei, dass sie sich täusche, aber sie verneinte. Und da wurde mir plötzlich eines klar: Ich hatte mit dem alten Gerlach so gut wie nie über seine Familie oder seine Freunde oder sonst etwas von heute gesprochen. Eigentlich wusste ich gar nichts von ihm – außer den Dingen, die vor siebzig Jahren geschehen waren.
    »Komm, setz dich«, sagte die Schwester. Ich tat es, und sie setzte sich mir gegenüber.
    »Hör jetzt bitte zu. Es ist nämlich so: Herr Gerlach – hat nicht mehr lange zu leben.«
    »Sie meinen – er muss sterben? Aber das kann doch nicht sein!«
    »Leider doch. Wir können ihm das Ende nur noch ein bisschen leichter machen – und ein bisschen schöner. Und das ist der Grund, warum ich mit dir spreche. Ich glaube, du bist der Einzige, der ihm jetzt noch ein wenig Freude macht. Versprich mir, dass du das nicht vergisst, ja?«
    Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich konnte nichts mehr

Weitere Kostenlose Bücher