Eden Inc.
neben ihm. Lash war weitergefahren; er hatte den Wagen entscheiden lassen, wohin es gehen sollte.
Und die Fahrt hatte hier geendet, im Naturschutzgebiet.
Die Gegend erschien ihm so gut wie jede andere.
Vor ihm gabelte sich der Weg und führte zu einer Reihe von Hochsitzen zum Vögelbeobachten, die auf den See hinausgingen. Lash wählte willkürlich einen Hochsitz aus und kletterte über die kurze Leiter in das kastenartige Gebilde. Drinnen war es warm und dunkel. Ein breiter waagerechter Schlitz an der Rückseite ermöglichte ihm einen heimlichen Blick auf den See. Lash beobachtete die auf dem Wasser dümpelnden und gelegentlich abtauchenden Vögel, die von seiner Anwesenheit nichts ahnten. Dann nahm er auf der Holzbank Platz und legte den unförmigen Umschlag neben sich ab.
Er öffnete ihn nicht sofort. Er griff vielmehr in seine Jackentasche und entnahm ihr ein schmales Bändchen: Schmale Landstraße ins Landesinnere von Matsuo Bashö. Er hatte das Buch auf der Ladentheke einer Starbucks-Filiale am Sky Harbor International gesehen, und der Zufall war ihm zu groß erschienen, um an dem Bändchen vorbeizugehen. Lash überblätterte die Einführung des Übersetzers und fand die ersten Zeilen.
Mond und die Sonne sind ewigliche Reisende. Sogar die Jahre wandern weiter. Ein Leben lang in einem Boot treiben oder im hohen Alter ein müdes Pferd in die Jahre führen: Jeder Tag ist eine Reise, und die Reise an sich ist das Zuhause.
Lash legte das Buch beiseite. Was hatte Lewis Thorpe über Bash ô s Poesie gesagt? Voller Spannung und Einfachheit? So was in der Art.
Lash befolgte beruflich viele Regeln, wobei die wichtigste lautete: Halte deine Patienten auf Distanz. Er hatte diese Regel auf die harte Tour gelernt, als Profiler beim FBI. Warum also ließ er es zu, dass Lewis und Lindsay Thorpe ihn derart faszinierten? Lag es nur an der verwirrenden Art ihres Ablebens? Oder hatte die Vollkommenheit ihrer Ehe etwas besonders Verlockendes? Denn nach allem, was er in Erfahrung gebracht hatte, war ihre Ehe wirklich perfekt gewesen - bis zu dem Augenblick, als sie sich die Plastiktüten über den Kopf gezogen, einander umarmt und langsam vor den Augen ihrer kleinen Tochter das Bewusstsein verloren hatten.
Normalerweise gestattete sich Lash keine Selbstbeobachtung. Sie führte zu nichts; sie beeinträchtigte nur seine Objektivität. Doch er beschloss, sich noch eine Beobachtung zu erlauben. Schließlich hatte er diesen Ort nicht willkürlich gewählt. In diesem Naturpark, auf diesem Pfad - und genau genommen auch an diesem Vogelhorst - hatte Shirley ihm vor drei Jahren gesagt, sie wolle ihn nie wiedersehen.
Jeder Tag ist eine Reise, und die Reise an sich ist das Zuhause. Lash fragte sich, zu welcher Art Reise die Thorpes wohl aufgebrochen waren. Oder, wenn er sich die Frage schon einmal stellte, welche Reise er jetzt selbst unternahm, um ihr Geheimnis zu lüften. Schon als ihn seine Beine über den Pfad getragen hatten, hatte die Vernunft ihm gesagt, er sollte sich dieser Reise widersetzen.
Lash fuhr sich müde mit der Hand über die Augen, dann griff er nach dem dicken Umschlag und riss ihn mit dem Zeigefinger auf.
Er enthielt etwas mehr als hundert Blatt Papier: die Resultate von Lewis und Lindsay Thorpes Kleckstests, die man bei Eden im Rahmen der Eignungsprüfung durchgeführt hatte.
Auf der Highschool hatten Tintenkleckse Lash fasziniert: die Vorstellung, dass das, was man in einem zufällig entstandenen Klecks sah, etwas über einen aussagte. Doch erst im Fortgeschrittenenstudium, als er sich mit Testauswertungen beschäftigt und das Verfahren - wie alle Psychologiestudenten - an sich selbst ausprobiert hatte, war ihm klar geworden, welch ein tiefgründiges psychodiagnostisches Werkzeug er da vor sich hatte. Kleckse waren als »projizierende« Tests bekannt, weil die Begriffe »richtig« und »falsch« - anders als bei kompliziert aufgebauten objektiven Schreibtests wie WAIS oder MMPI - mehrdeutig waren. Die Suche nach Bildern in Tintenklecksen machte es erforderlich, dass man tieferen, verwickelteren Ebenen der Persönlichkeit standhielt.
Bei Eden verwendete man den Hirschfeldt-Test, eine Wahl, die Lash von ganzem Herzen billigte. Obwohl der Hirschfeldt- Test auf Exners Weiterentwicklung des ursprünglichen Rorschach-Tests basierte, hatte er mehrere Vorzüge. Der Rorschach-Test bestand aus nur zehn Tintenklecksen, deren Bedeutung von den Psychologen geheim gehalten wurde: Einem Kandidaten musste es leicht fallen,
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