Eden und Orion - Lichtjahre zu dir
Meinen Vater, der damals wohlgemerkt auch erst siebzehn war.
Ryan stellte das Foto zurück auf den Nachttisch und inspizierte den Bücherstapel neben meinem Bett. »Oh, du hast Shakespeare gelesen«, sagte er beeindruckt.
Ich nickte. »Englisch ist mein erstes Prüfungsfach. Ich lasse mich über Shakespeare prüfen.«
»Zeig mal deine Prüfungsthemen.«
Ich begann eifrig, einen Papierstapel durchzublättern auf der Suche nach der Liste.
»Wer ist der Hauptverantwortliche für Romeos und Julias Tod?«, fragte ich zur Unterhaltung schon einmal.
»Der Apotheker?«, schlug Ryan vor. »Immerhin hat er Romeo das Gift verkauft.«
»Ich persönlich halte ja Shakespeare für den Hauptschuldigen.«
Ryan hob eine Augenbraue und sah mich skeptisch an. »Warum? Weil er das Stück geschrieben hat?«
Ich schüttelte den Kopf. »Weil Shakespeare bereits im Prolog erzählt, wie die Geschichte ausgeht – dass sich zwei unglückselig Liebende ihr Leben nehmen. Er will damit wohl sagen, dass Romeos und Julias Zukunft vorherbestimmt ist. Es spielt keine Rolle, was sie oder andere tun – es ist ihnen bestimmt zu sterben. Schicksal eben.«
Ryan nickte nachdenklich. »Du könntest recht haben. Immerhin begegnen Romeo und Julia ja immer wieder Vorzeichen, die auf das Ende ihrer Liebe verweisen.«
»Beweise, Mr Westland, Beweise! Können Sie das am Text festmachen?«, mahnte ich gekünstelt und imitierte die Stimme von Mr Kennedy, unserem Englischlehrer.
Ryan legte sich lang und starrte an die Decke. »Kurz bevor Romeo zu Capulets Kostümfest aufbricht, hat er eine düstere Vorahnung, dass alles ein schlechtes Ende nehmen wird: Mein Herz erbangt, / Und ahnet ein Verhängnis, welches, noch / Verborgen in den Sternen …«, zitierte er leise. Seine Augen waren immer noch an die Decke gerichtet, als stünden Romeos Worte dort geschrieben. »… heut Nacht / Bei dieser Lustbarkeit den furchtbarn Zeitlauf / Beginnen und das Ziel des läst’gen Lebens, / Das meine Brust verschließt, mir kürzen wird / Durch irgendeinen Frevel frühen Todes.«
Ich war ernsthaft beeindruckt. »Ich gehe mal davon aus, dass ihr das Stück in New Hampshire durchgenommen habt«, sagte ich.
Ryan nickte.
»Sieht so aus, als hätten eure Lehrer mehr Wert auf Literaturgeschichte als auf den Geschichtsunterricht gelegt«, sagte ich.
»Das ist ein eher zweifelhaftes Kompliment«, lachte Ryan trocken und klatschte mir die Romeo-und-Julia-Ausgabe an den Oberschenkel. »Nun, Miss Anfield, erzählen Sie uns doch bitte, wie Shakespeare sich mit dem Thema ›Schicksal‹ in seinen Stücken auseinandersetzt?«
»Oh Mann, was für eine komplexe Frage«, stöhnte ich genervt. »Kannst du die nicht ein bisschen eingrenzen?«
»Na gut, nehmen wir also Macbeth. Ist Macbeth das Opfer der Umstände oder seines eigenen Ehrgeizes?«
»Macbeth glaubt an die Macht der Vorsehung. Aber er versucht auch, sein Schicksal aktiv zu beeinflussen und seiner Bestimmung ein Schnippchen zu schlagen. Als er die Söhne Banquos zu ermorden trachtet zum Beispiel. Am Ende bewahrheiten sich dann aber doch alle Prophezeiungen.«
»Und du? Vergiss mal einen Moment lang Shakespeare. Glaubst du an höhere Gewalt?«
»Nein. Ich glaube, dass wir unser Schicksal selbst gestalten können. Ich finde die Vorstellung, dass es eine höhere Gewalt gibt, der wir haushoch unterlegen sind, schrecklich. Für mich sind das alles Ausreden, die Menschen eine Entschuldigung dafür liefern, keine Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Ich glaube, dass wir aus unendlich vielen Möglichkeiten schöpfen können, bis wir uns schließlich entscheiden.«
Genau wie die Fülle an Entscheidungsmöglichkeiten, der ich mich gerade ausgesetzt sah. Ryan lag auf meinem Bett; ich saß neben ihm, und uns trennten nur ein paar Zentimeter. Ich konnte einfach sitzen bleiben und ihn fragen, was er über das Schicksal dachte. Und dabei freundlich und betont sachlich bleiben. Ich konnte aber genauso gut meiner spontanen Eingebung folgen, mich zu ihm hinüberbeugen und ihn küssen.
»Und wenn du dich dann entschieden hast?«
»… verfallen die anderen Möglichkeiten.«
Ryan setzte sich auf, beugte sich zu mir und legte mir eine Hand auf den Arm. »Dann stell dir Folgendes vor«, sagte er, und in seiner Stimme schwang etwas Scherzhaftes mit. »Du kannst dich frei in Raum und Zeit bewegen. Und reist also ins Viktorianische Zeitalter zurück. Nun stell dir vor, dass du rein zufällig Zeuge der ersten
Weitere Kostenlose Bücher