Eden und Orion - Lichtjahre zu dir
fragte Ryan verzagt. »Glaubst du, andere haben das auch gemerkt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, garantiert niemand. Nur ich.«
Ryan fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar und blickte finster zu Boden.
»Und jetzt, wo ich hinter dein Geheimnis gekommen bin?«, fragte ich. »Musst du mich jetzt umbringen?« Es sollte wie ein Scherz klingen oder ihn wenigstens zum Lächeln bringen, aber irgendwie ging mir der Tonfall daneben …
»Nein, dir passiert nichts«, antwortete Ryan tonlos. » Mich machen sie dafür einen Kopf kürzer.«
»Aber warum? Es ist doch nicht dein Fehler, dass ich alles herausgefunden habe!«
»Ben und Cassie werden kurzen Prozess mit mir machen. Ich darf nämlich niemanden mit nach Hause bringen. Und ich hätte das Buch nicht einfach herumliegen lassen dürfen. Ich habe gestern, bevor du kamst, darin gelesen und es in meiner Panik schnell unter den Stapel Schulbücher geschoben, als ich bemerkte, dass du da warst.«
»Sie können dir auf keinen Fall die Schuld in die Schuhe schieben – du hast mich schließlich nicht eingeladen«, wandte ich ein. »Ich bin einfach bei euch aufgeschlagen.«
»Ich hätte dich aber nicht reinlassen dürfen. Wenn jemand unangekündigt hier auftaucht, muss ich irgendeine Entschuldigung finden und ihn abwimmeln. Wir dürfen uns nicht mit euch einlassen.«
»Und warum hast du es dann trotzdem getan?«
Ryan sah zu mir herüber. »Ich konnte einfach nicht anders. Du bist den ganzen Weg ohne Mantel zu mir gelaufen, durch den Sturm, nur um mir meine Jacke zu bringen. Du sahst so durchgefroren aus, und da konnte ich einfach nicht anders …« Er verstummte.
»Ich hätte es auch so herausbekommen«, sagte ich. »Es waren so viele Kleinigkeiten, die ich mir an dir nicht erklären konnte.«
Ryan sah mich an und lächelte. »Weißt du was? Für jemanden aus deiner Zeit muss das doch eigentlich eine ziemlich große Sache sein herauszufinden, dass sein Freund ein Zeitreisender aus der Zukunft ist. Wie kommt es, dass du so stoisch reagierst?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Man sagt mir allgemein nach, dass ich nur schwer zu beeindrucken sei.«
»Und obendrein bist du noch wunderschön, klug und absolut nicht aus der Ruhe zu bringen.«
Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass ich endlich lernen würde, Komplimente gelassen hinzunehmen. »Und? Beantwortest du jetzt meine Frage?«, sagte ich deshalb etwas zu schnippisch.
»Entschuldige. Aber du musst mir auf die Sprünge helfen. Was wolltest du wissen?«
»Aus welchem Jahr du kommst.«
Ryan zögerte, als wöge er ein allerletztes Mal die Möglichkeit ab, mir nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Donner grollte, und fast gleichzeitig erhellte ein Blitz den Raum. Die Deckenlampe flackerte und erlosch.
»Warte kurz«, rief Ryan panisch und begann, in seinem Schreibtisch zu kramen.
Nach einer Weile fand er eine Zwölferpackung Kerzen und ein Feuerzeug. Sechs platzierte er auf dem Schreibtisch, sechs stellte er auf das Fensterbrett. Nach und nach flammten immer mehr Kerzen auf, die ein warmes, flackerndes Licht verströmten.
Als alle Kerzen brannten, setzte Ryan sich zurück aufs Bett. »Ich wurde im Februar 2105 geboren und bin aus dem Jahr 2122 hierher, in deine Gegenwart, gekommen.«
Ich versuchte, diese Informationen einzuordnen. Ich war 1995 geboren worden. Was bedeutete, dass Ryan einhundertzehn Jahre jünger war als ich.
»Du bist siebzehn?«, fragte ich stattdessen nur dümmlich.
Ryan nickte. »Ich habe nur gesagt, ich sei sechzehn, damit ich in deine Klasse kam.«
Ich warf einen neuerlichen Blick auf den Bücherstapel vor seinem Bett. Von Menschen und Mäusen . Romeo und Julia . Große Erwartungen .
»Du hast deine Prüfungen schon … Kein Wunder, dass du so ein Überflieger bist. Vor allem in Englisch …«
Ryan lachte. »Na super. Da erzähle ich dir, dass ich aus der Zukunft komme, und du bist nur sauer, weil ich in Englisch bessere Noten schreibe als du.«
»Du bist nicht besser als ich«, schnauzte ich ihn an. »Du hast das alles schon mal gelernt.«
»Ich habe Romeo und Julia schon einmal durchgenommen. Und Macbeth , das stimmt«, gab Ryan zu. »Aber Dickens und Steinbeck standen bei uns nicht auf dem Lehrplan. Wir haben vor allem Autoren des späten 21. Jahrhunderts behandelt.«
»Ihr habt also Autoren durchgenommen, die noch gar nicht geboren sind.«
Er zog eine Schulter hoch. »Könnte man so sagen.«
»Shakespeare wird aber immer
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