Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
Leben kaum einen Schuß Pulver wert, und somit wendete er sich mit allen Kräften seines Geistes der großen Aufgabe zu.
Die Handschellen boten das erste Hindernis. Wie sich ihrer entledigen? Erst hielt er es für undurchführbar; aber bei näherem Zusehen erkannte er, daß man die Eisen mit geringer Anstrengung abstreifen konnte, indem man die Hände durchdrückte; diese Art von Fessel erfüllt bei jungen Leuten, deren Knochen leicht nachgeben, ganz und gar nicht ihren Zweck. Nun löste er die Bande an seinen Füßen, ließ aber den Strick hängen, so daß er zur Not wieder befestigt werden konnte, falls jemand herunterkam; und dann untersuchte er die Scheidewand. Sie bestand aus zolldickem, weichem Fichtenholz, durch das er sich ohne viel Mühe einen Weg würde bahnen können. Da hörte er eine Stimme am Eingang des Vorderkastells und hatte gerade Zeit, seine Rechte in die Handschelle zu zwängen (die Linke war noch nicht frei) und den Strick oberflächlich um seine Knöchel zu winden, da kam Dirk Peters herab, begleitet von »Tiger«, der sofort in die Koje sprang und sich niederlegte. Den Hund hatte Augustus an Bord gebracht, weil er meine Zuneigung für das Tier kannte und mir damit eine große Freude zu machen gedachte. Er holte ihn von unserem Hause weg, gleich nachdem er mich im Kielraum versteckt hatte, vergaß aber, als er mir die Uhr mitbrachte, etwas davon zu erwähnen. Seit der Meuterei konnte er ihn nirgends erblicken und war daher überzeugt, daß die Schurken ihn über Bord geworfen hätten. Der Hund war aber in ein Loch unterm Fangboot gekrochen, aus dem er später nicht herauskonnte, denn er vermochte sich nicht darin umzudrehen. Peters ließ ihn schließlich heraus, und mit einer Gutmütigkeit, die mein Freund wohl zu schätzen wußte, hatte er ihm das Tier jetzt als Gefährten ins Vorderkastell gebracht, zugleich mit etwas Salzfleisch, Kartoffeln und einer Kanne Wasser; dann ging er an Deck, mit dem Versprechen, am nächsten Tag wieder etwas Eßbares mitzubringen.
Sobald er fort war, befreite Augustus Hände und Füße von ihren Fesseln. Dann kehrte er die Matratze um, nahm sein Taschenmesser (die Halunken hatten es nicht der Mühe wert gefunden, ihn zu untersuchen) und begann eine Planke der Scheidewand in möglichster Nähe der Koje anzuschneiden. Er wählte diese Stelle, damit er im Falle plötzlicher Unterbrechung seine Arbeit mit der Matratze verdecken konnte. An diesem Tag erfolgte jedoch keine weitere Störung, und als der Abend kam, war die Planke völlig entzwei. Es muß hier erwähnt werden, daß keiner von der Mannschaft im Vorderkastell schlief, da jene seit der Meuterei ausschließlich in der Kajüte hausten, wo man sich an den Weinen und Vorräten des Kapitäns gütlich tat; um die Führung des Schiffes kümmerte man sich so wenig als möglich. Diese Umstände waren unser Glück; anders hätte mich Augustus nie erreichen können. Gegen Tagesanbruch beendete er die zweite Durchschneidung des Brettes, die sich ungefähr einen Fuß über dem ersten Einschnitt befand, und machte so die Öffnung groß genug, um nach der Kuhbrücke vordringen zu können. Von dort aus begab er sich ohne viele Schwierigkeiten nach der unteren Hauptluke, obwohl er, um dorthin zu gelangen, Berge von Tranfässern, die sich fast bis ans Oberdeck hinauftürmten, überklettern mußte; kaum war zwischen beiden Platz für seinen Körper vorhanden. Als er die Luke erreicht hatte, entdeckte er, daß Tiger ihm gefolgt war. Es schien jetzt zu spät, um vor Tag zu mir zu gelangen, da die größten Hindernisse in dem unteren Kielraum zu suchen waren. Er beschloß somit, umzukehren und bis zum nächsten Abend zu warten. In diesem Gedanken öffnete er ein wenig die untere Luke, um bei seiner Rückkehr nicht mehr Aufenthalt als nötig zu haben. Kaum hatte er das getan, als Tiger an die schmale Öffnung sprang, eifrig schnüffelte, dann ein langgedehntes Winseln hören ließ und aufgeregt mit seinen Pfoten daran kratzte. Offenbar ahnte, wußte er, daß ich mich im Kielraum befand, und Augustus hielt es für möglich, daß er sich bis zu mir durchdrängen würde. Jetzt kam er auf den Einfall, den Brief zu schreiben, ich sollte ja um keinen Preis selbständig einen Versuch zu meiner Befreiung unternehmen; und wer weiß, ob er am nächsten Tag schon seine Absicht ausführen konnte? Die Folge zeigte, wie glücklich dieser Einfall war; denn ohne den Brief wäre ich gewiß auf irgendeinen verzweifelten Ausweg verfallen, die
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