Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
Wasser ans Kinn reichte. Dann tauchte er, mit dem Kopf voran, indem er sich nach rechts wandte, um die Vorratskammer zu erreichen. Jedoch das erstemal mißglückte es ihm vollständig. Nach weniger als einer halben Minute riß er heftig an der Leine, und sofort zogen wir ihn, der Verabredung gemäß, in die Höhe, leider so unvorsichtig, daß er sich auf schmerzhafte Weise an der Treppe stieß. Er hatte nichts mitgebracht, hatte nur ein kleines Stück in den Gang vordringen können, da er sich dagegen wehren mußte, mit dem Deck in unsanfte Berührung zu kommen. Er war vollkommen entkräftet und mußte fünfzehn Minuten ausruhen, ehe er einen neuen Tauchversuch unternehmen konnte.
Der zweite Versuch fiel noch übler aus; denn er blieb, ohne ein Zeichen zu geben, so lange unter Wasser, daß wir, um seine Sicherheit besorgt, ihn ohne ein Signal herauszogen. Er war am Ersticken und hatte, wie er erzählte, wiederholt am Tau gerissen, ohne daß wir es fühlten, wahrscheinlich, weil ein Teil des Taues sich am Treppengeländer verfangen hatte. Dies Geländer war ein so großes Hindernis, daß wir vor allem an seine Beseitigung gehen mußten. Wir wendeten Gewalt an, indem wir alle vier so tief wie möglich ins Wasser stiegen und mit vereinter Kraft die Balustrade abbrachen.
Der dritte Versuch mißlang wie die beiden ersten, und es wurde uns jetzt klar, daß auf diese Art nichts auszurichten sei, wenn der Taucher sich nicht durch ein Gewicht während seiner Nachforschungen auf dem Fußboden der Kajüte halten könne. Endlich entdeckten wir nach langem vergeblichem Suchen zu unserer größten Freude, daß eine der vorderen Ketten so locker saß, daß wir sie ohne Mühe losreißen konnten. Peters befestigte die Kette behutsam an seinen Füßen, dann stieg er zum vierten Male hinunter, und diesmal gelang es ihm, bis zur Tür der Stewardskabine zu kommen. Doch zu seiner unsagbaren Betrübnis fand er sie versperrt und mußte umkehren, ohne eingedrungen zu sein, da er mit der größten Anstrengung höchstens noch eine Minute unter Wasser zu bleiben vermochte. Nun waren unsere Aussichten düster genug, und weder Augustus noch ich enthielten uns bitterer Tränen, als wir bedachten, welch ein Heer von Schwierigkeiten uns umgab, wie gering die Wahrscheinlichkeit endgültiger Rettung war. Aber diese Schwäche blieb nicht von langer Dauer. Wir warfen uns auf die Knie und flehten Gott um Hilfe an in den vielen Gefahren, die uns umdrohten; dann erhoben wir uns mit erneuter Hoffnung und gestärkten Herzens, um zu überlegen, was sterbliche Kräfte noch zu unserer Erlösung vollbringen könnten.
Zehntes Kapitel
Bald darauf ereignete sich ein Zwischenfall, der mir tiefere Erregung, größere Fülle des äußersten Entzückens wie des ärgsten Entsetzens enthalten zu haben dünkt als irgendeine der tausend Zufälligkeiten, die mich nachher in neun langen Jahren heimsuchten – diesen Jahren, in denen Geschehnisse der überraschendsten, der unerhörtesten und unbegreiflichsten Art einander förmlich drängten. Wir lagen nahe der Kajütentreppe auf dem Deck und besprachen die Möglichkeit, trotz allem nach der Vorratskammer zu gelangen, als mein Blick auf mein Gegenüber fiel, auf Augustus: er war blaß wie der Tod, und seine Lippen bebten auf eine seltsame und unverständliche Weise. Tief beunruhigt redete ich ihn an; doch gab er keine Antwort, und ich fing an zu glauben, er sei plötzlich erkrankt, als ich seine Augen wahrnahm, die offenbar auf einen hinter mir befindlichen Gegenstand starrten. Ich wandte mich um, und niemals werde ich die Seligkeit vergessen, die jedes Teilchen meines Körpers zu durchzittern schien, als ich eine große Brigg in einer Entfernung von wenigen Seemeilen auf uns zusegeln sah. Ich sprang in die Höhe, als wäre mein Herz von einer Kugel getroffen worden; ich streckte meine Arme in der Richtung des Schiffes aus und stand so, unbeweglich, ohne eine Silbe hervorstammeln zu können. Peters und Parker waren ebenso ergriffen, doch auf verschiedene Art: jener tanzte wie ein Toller auf dem Verdeck herum, indem er die wahnsinnigsten Reden vermengt mit Geheul und Flüchen von sich gab; dieser brach in Tränen aus und weinte eine ganze Zeitlang gleich einem Kinde.
Das Schiff war eine große Schonerbrigg von niederländischer Bauart, schwarz bemalt, mit protzig vergoldeter Bugzier. Sie mußte viel böses Wetter überstanden haben, und der Sturm, der sich für uns so verhängnisvoll zeigte, mochte auch sie arg zerzaust
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