Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
Auf dem Rücken der Gestalt, von dem ein Teil des Hemdes heruntergerissen war, saß eine riesige Seemöwe, die sich an dem scheußlichen Fleisch gütlich tat; ihr Schnabel, ihre Fänge waren tief hineingegraben, ihr weißes Gefieder war über und über mit Blut bespritzt. Als die Brigg sich weiterbewegte, so daß wir sichtbar wurden, zog der Vogel mit offenbarer Mühe seinen blutroten Kopf aus dem Fleisch, betrachtete uns alle mit einem stumpfsinnigen Ausdruck, erhob sich dann schwerfällig vom Leichnam, der ihm zum Fraß gedient hatte, flog gerade über unser Verdeck hin und blieb da eine Weile schweben, mit einem Stück blutgetränkter, leberartiger Substanz im Schnabel. Der schaudervolle Bissen plumpste endlich mit plötzlichem Aufklatschen unmittelbar vor Parkers Füße. Gott verzeih‘ es mir, aber jetzt zuckte zum ersten Male ein Gedanke durch mein Hirn, ein Gedanke, den ich nicht nennen will, und ich fühlte, wie ich einen Schritt auf den blutigen Fetzen zu tat. Ich blickte auf, und Augustus‘ Augen begegneten den meinen mit einer grausigen Bedeutung, die mir zugleich meine Vernunft wiedergab. Ich sprang eilends vor und schleuderte mit einem tiefen Schauder den scheußlichen Gegenstand ins Meer.
Der Leichnam, von dem er stammte, war, da er auf dem Tau ruhte, durch die Anstrengungen des im Fleische wühlenden Tieres leicht hin und her geschaukelt worden, und diese Bewegung hatte in uns die Meinung erzeugt, er sei etwas Lebendiges. Als die Möwe ihre Last von ihm weghob, schwang er sich herum und fiel halb über Bord, so daß sein Gesicht vollkommen sichtbar wurde. Noch nie habe ich so Entsetzliches, so Fürchterliches gesehen! Die Augen fehlten, ebenso alles Fleisch um den Mund, so daß man die entblößten Zähne sah. Das war also das Lächeln gewesen, das Hoffnung in uns erweckt hatte! Das ... doch ich will lieber schweigen. Die Brigg zog, wie gesagt, unter unserm Heck vorüber und hielt langsam, aber stetig auf Lee. Mit ihr und ihrer grauenvollen Besatzung entflohen alle die heiteren Traumgesichter, die uns Erlösung, Seligkeit vorgespiegelt hatten. Wie sie bedächtig vorbeizog, hätten wir sie vielleicht anborden können, wäre nicht jedes Vermögen des Leibes und der Seele durch unsere plötzliche Enttäuschung und die Furchtbarkeit des Anblicks lahmgelegt gewesen. Wir hatten geschaut, empfunden, aber wir vermochten nicht eher zu denken, zu handeln, als bis es, ach! zu spät war. Wie sehr unsere Fassungskraft durch jenes Ereignis gelitten hatte, möge man aus dieser Tatsache folgern: Als die Brigg schon so weit von uns trieb, daß man nur noch die Hälfte ihres Rumpfes sehen konnte, wurde in allem Ernst der Vorschlag erwogen, sie durch Schwimmen wieder einzuholen.
Ich habe seitdem vergebens danach getrachtet, irgendeinen Einblick in das grauenhafte Geheimnis zu erhalten, das um das Schicksal jenes fremden Schiffes webte. Sein Bau und allgemeines Aussehen machten es, wie ich schon sagte, wahrscheinlich, daß es ein holländisches Kauffahrteischiff war, und die Tracht der Mannschaft unterstützte diese Ansicht. Wir hätten leicht seinen Namen am Stern lesen und andere Beobachtungen anstellen können, aber die tiefgehende Erregung des Augenblickes raubte uns den Sinn für alle diese Fragen. Aus der safrangelben Farbe der noch nicht völlig verwesten Leichen schlössen wir auf die Vernichtung der gesamten Bemannung durch das Gelbe Fieber oder irgendeine andere giftige Krankheit derselben furchtbaren Art. War dies der Fall (und ein anderer dünkt mir kaum möglich), so muß, nach der Lage der Körper zu urteilen, der Tod mit entsetzlicher und überwältigender Plötzlichkeit über sie gekommen sein, anders, als selbst bei den tödlichsten Epidemien gewöhnlich zu geschehen pflegt. Vielleicht war durch Zufall Gift in ihre Vorräte geraten, oder sie hatten von irgendeinem unbekannten giftigen Fisch oder Seevogel gegessen; jedoch ist es vollkommen unnütz, Mutmaßungen zu hegen, wo alles auf immer in das Dunkel eines erschreckenden und unergründlichen Geheimnisses gehüllt erscheint.
Elftes Kapitel
Wir verbrachten den Rest des Tages in einer Art stumpfen Hinbrütens und sahen dem entschwindenden Schiff nach, bis die Finsternis es unseren Blicken entzog und uns einigermaßen die Besinnung zurückgab. Die Qualen des Hungers und des Durstes kamen nun wieder und ließen alle übrigen Sorgen und Betrachtungen klein erscheinen. Bis zum Morgen aber war nichts zu tun, wir trachteten also, ein wenig auszuruhen, so
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