Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
haben, denn ihr Fockmast fehlte, und am Steuerbord war sie arg beschädigt. Sie lag, als wir sie zuerst erblickten, wie ich wohl schon sagte, an zwei Meilen entfernt und kam im Winde auf uns zu. Die Brise war gelind, und wir wunderten uns, daß die Brigg nur wenige Segel aufgesetzt hatte; natürlich kam sie langsam vorwärts, und unsere Ungeduld steigerte sich bis zum Fieber. Trotz unserer Erregung entging uns nicht das ungeschickte Manövrieren des fremden Schiffes. Es fiel so stark ab, daß wir es für unmöglich hielten, von ihm aus gesichtet zu werden. Dann glaubten wir wieder, man habe unsere Brigg gesehen, aber niemand an Bord bemerkt und wolle nun durch den Wind wenden und einen anderen Kurs einschlagen. Da brüllten wir nun jedesmal mit aller Kraft unserer Lungen, worauf der Fremde seine Absicht zu ändern und auf uns zuzuhalten schien, und dieses sonderbare Manöver wiederholte sich zwei- oder dreimal, so daß wir endlich nur eine Erklärung dafür fanden: der Steuermann mußte betrunken sein.
Wir bemerkten niemand auf ihrem Verdeck, bis die Brigg etwa eine Viertelmeile entfernt war. Da erblickten wir drei Seeleute, nach ihrer Tracht Holländer. Zwei lagen auf ein paar Segeln am Vorderkastell, der dritte schien, nahe dem Bugspriet über Steuerbord gelehnt, uns mit lebhafter Neugier zu betrachten. Es war ein großer, dicker Mensch; seine Haut war von sehr dunkler Färbung. Er schien uns zur Geduld zu ermahnen, indem er uns auf lustige, aber wunderliche Weise zunickte und dabei fortwährend lachte, so daß man seine blendendweißen Zähne sehen konnte. Als sein Schiff näher kam, fiel ihm die rote Flanellmütze, die er aufgehabt, vom Kopf herab ins Wasser, ohne daß er sich darum zu kümmern schien; er fuhr fort zu lächeln und uns zuzunicken. Ich berichte diese Umstände ganz genau und schildere sie, das muß betont werden, geradeso, wie sie uns erschienen.
Langsam und mit größerer Stetigkeit als zuvor kam die Brigg heran, und – ich kann nicht ohne Erregung von diesem Erlebnis sprechen – unsere Herzen hoben sich in stürmischer Freude, und wie strömten unsere Seelen aus in Jubelrufen, in Dankgebeten an Gott, da wir so völlig, so ganz wider Erwarten wunderbar errettet werden sollten! Mit einem Male wehte über das Wasser von jenem fremden Schiffe, das jetzt dicht an unserm Kurs war, ein Geruch, ein Gestank, für den die Welt keinen Namen hat – höllisch, atemraubend, unerträglich, unfaßlich. Ich war am Ersticken, und da ich mich nach meinen Gefährten umsah, merkte ich, daß sie bleicher als Marmor dreinschauten. Aber jetzt blieb uns keine Zeit zu Fragen und Vermutungen; fünfzig Fuß war die Brigg von uns entfernt, und ihre Absicht schien es, uns am Heck anzulaufen, so daß wir, ohne ein Boot auszusetzen, an Bord gehen könnten. Wir stürzten achter; da fiel sie plötzlich weit, um fünf oder sechs Strich, von ihrem Kurs ab, und als sie im Abstand von etwa zwanzig Fuß unter unserem Stern vorbeizog, konnten wir ihr Verdeck voll überblicken. Werde ich jemals das dreimal gräßliche Entsetzen dieses Schauspiels vergessen? Fünfundzwanzig oder dreißig männliche Körper, darunter einige Frauen, lagen zwischen Heck und Galion verstreut im grauenhaftesten Zustand der Verwesung. Wir erkannten, daß auf dem unseligen Schiff keine Seele am Leben war! Dennoch konnten wir uns nicht enthalten, die Toten um Hilfe anzurufen! Ja, laut und lange flehten wir diese schweigsamen und ekelerregenden Gestalten an, sie möchten dableiben, sie möchten uns nicht im Stich lassen, daß wir ihnen gleich würden; sie möchten uns aufnehmen in ihre wackere Gesellschaft! Wir waren fast rasend vor Entsetzen und Verzweiflung, vollkommen wahnsinnig durch die Qual der allerschmerzlichsten Enttäuschung.
Als unser erstes lautes Schreckensgeschrei losbrach, da war es, als antwortete etwas aus der Gegend des Bugspriets, ein Ton, so ähnlich dem Ruf einer Menschenstimme, daß die feinsten Ohren dadurch erschreckt und getäuscht werden mußten. In diesem Augenblick brachte ein erneutes Abfallen des fremden Schiffes die Gegend des Vorderkastells in Sicht, und in einem Augenblick erkannten wir die Ursache dieses Lautes. Noch immer lehnte sich die große, dicke Gestalt über die Brüstung, noch immer nickte sie hin und her, aber ihr Gesicht war von uns abgewendet. Die Arme hingen über die Reling herab, die Handflächen waren nach außen gewendet. Die Knie fingen sich in einem starken, vom Bugspriet achterwärts ausgereckten Tau.
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