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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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gingen nach längerem Hin und Her darauf ein, und wie ich vermutet hatte – denn die Brise war stärker geworden –, hob sich der Nebel, ehe die Stunde um war; es war kein Schiff zu sehen. Wir machten uns bereit, Lose zu ziehen.
    Nur mit tiefem Widerstreben verweile ich bei der greulichen Szene, die nun folgen mußte; spätere Ereignisse haben sie nicht im entferntesten aus meiner Erinnerung zu löschen vermocht, und das herbe Gedächtnis an sie wird mir jeden zukünftigen Augenblick meines Lebens vergällen. Ich will daher so rasch wie möglich über diese Vorkommnisse hinwegeilen. Die einzige Methode, die wir anwenden konnten, war das Ziehen von Strohhalmen. Sie wurden durch Holzsplitter ersetzt, und ich sollte sie in der Hand halten. Ich zog mich an ein Ende des Rumpfes zurück, indes meine unseligen Gefährten am andern Ende mir schweigend den Rücken zukehrten. Während ich die Lose ordnete, erduldete ich die allerbitterste Seelenangst. In den meisten Lagen des Lebens fühlt der Mensch ein Interesse an der Erhaltung seines Ichs; dieses Interesse wächst mit der Gefährdung des Lebens. Jetzt aber, da mich die schweigsame, ernste Natur meiner Aufgabe (so verschieden vom Kampf gegen tobenden Sturm oder Hungersqualen) an die geringen Möglichkeiten denken ließ, die mich vom grauenvollsten Tod schieden – einem Tod zu allergrauenvollstem Zweck –, da zerstob jedes Titelchen der Energie, die mich bis jetzt aufrecht hielt, wie Federn vorm Wind, und ich fiel der jämmerlichsten, verächtlichsten Furcht zur Beute. Ich konnte anfangs nicht einmal die Kraft aufbieten, die Holzsplitter zu zerreißen und anzupassen; meine Finger versagten rundweg den Dienst, meine Knie schlugen aneinander. Tausend wahnwitzige Pläne, die mein Teilnehmen an der scheußlichen Lotterie vereiteln sollten, schossen mir durch den Kopf. Ich wollte mich vor meinen Gefährten auf die Knie werfen und sie anflehen, mir diese Notwendigkeit zu erlassen, wollte mich plötzlich auf sie stürzen und einen von ihnen töten, um so die Entscheidung durchs Los überflüssig zu machen; kurz, alles wollte ich eher, als das mir Übertragene durchführen. Endlich, nachdem ich lange Zeit auf diese Unsinnigkeiten verschwendet hatte, rief mich Parkers Stimme zur Besinnung zurück; er drang in mich, ihn und die andern rasch aus ihrer gräßlichen Ungewißheit zu erlösen. Selbst dann konnte ich nicht gleich die Splitter in Ordnung legen, sondern überdachte bei mir jegliche Art von List, durch die ich einen meiner Leidensgefährten verleiten könnte, den kurzen Splitter zu ziehen; denn es war ausgemacht, daß, wer das kürzeste der vier Hölzer zog, für die Erhaltung der übrigen sterben sollte. Möge mich meiner Herzlosigkeit wegen verdammen, wer sich noch nie in einer solchen Lage befunden hat!
    Endlich war kein Aufschub mehr möglich, und ich schwankte nach dem Vorderkastell, indes mir mein Herz mit seinem Klopfen die Brust zu zersprengen drohte. Ich streckte die Hand mit den Splittern meinen Gefährten entgegen; Peters zog sofort. Er war frei – seiner wenigstens war nicht der kürzeste; eine Wahrscheinlichkeit mehr gegen mein Davonkommen! Ich nahm alle Kraft zusammen und gab die Lose an Augustus weiter. Er zog ebenfalls rasch, war ebenfalls frei; und jetzt waren die Möglichkeiten des Lebens oder Sterbens für mich gleich groß. In diesem Augenblick durchwühlte die Wut eines Tigers meine Seele, und ich empfand gegen dieses arme Mitgeschöpf, Parker, den tiefsten, teuflischsten Haß. Aber dies Gefühl währte nicht lange, und mit einem krampfhaften Schauder und geschlossenen Augen hielt ich ihm die noch übrigen Splitter hin. Volle fünf Minuten dauerte es, bevor er sich entschließen konnte, zu ziehen, und während dieser ganzen Zeit voll herzzerreißender Spannung öffnete ich die Augen nicht. Mit einem Male wurde eins der beiden Lose schnell aus meiner Hand gezogen. Die Entscheidung war gefallen, doch wußte ich noch nicht, ob für oder gegen mich. Keiner von uns sprach, und ich wagte es nicht, mich selbst zu überzeugen ... Endlich nahm Peters meine Hand und zwang mich, aufzuschauen, und sofort erkannte ich an Parkers Antlitz, daß ich frei, daß er der Verurteilte war. Ich rang nach Atem und stürzte bewußtlos aufs Deck hin.
    Ich kam rechtzeitig zur mir, um noch die Vollendung der Tragödie durch den Tod dessen zu schauen, der sie am eifrigsten ins Werk gesetzt hatte. Er wehrte sich nicht im geringsten; Peters durchbohrte ihn von rückwärts, und er

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