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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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hauptsächlich auf die immer wiederholten Freundschaftsbeteuerungen dieser schändlichen Rotte bauend. Fünf oder sechs von ihnen machten sich als Führer mit dem Entfernen großer Steine und dem Glätten des Pfades zu tun. Dann kam unsre Abteilung. Wir marschierten dicht beieinander und waren immer darauf bedacht, daß keiner sich von der Schar loslöse. Den Schluß machte das Hauptkorps der Wilden, die wie gewöhnlich mit allem Anstand dahinschritten.
    Dirk Peters, ein gewisser Wilson Allen und ich selbst befanden uns auf der rechten Seite; wir untersuchten gerade die eigentümliche Schichtung der steilen, überhängenden Wand. Eine Klüftung im weichen Gestein lenkte unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie war breit genug, daß ein Mensch bequem hineindringen konnte, und zog sich etwa achtzehn oder zwanzig Schritt geradeaus ins Gefels, um sich dann nach links zu wenden. Die Höhe der Öffnung betrug, soweit wir sie von der Hauptschlucht aus verfolgen konnten, etwa sechzig bis siebzig Fuß. Ein oder zwei verkümmerte Sträucher wuchsen aus den Spalten; an ihnen bemerkte ich eine Art Lambertusnuß, die ich gern näher betrachten wollte; ich machte einen raschen Abstecher dahin, riß fünf oder sechs Nüsse ab und wandte mich rasch zurück. Als ich mich umkehrte, sah ich, daß Peters und Allen mir gefolgt waren. Ich bat sie zurückzugehen, da hier für zwei nicht Platz genug sei; ich würde ihnen schon ein paar Nüsse mitbringen. Sie kehrten denn auch um und kletterten zurück. Allen war gerade am Ausgang der Nebenkluft angelangt ... da empfand ich plötzlich eine Erschütterung, mit der ich nichts von allem, was ich jemals erlebte, vergleichen könnte, eine Erschütterung, die in mir die Vorstellung erzeugte – falls ich überhaupt einen Gedanken zu fassen imstande war –, daß die Grundfesten des Erdballs auseinanderstürzen wollten und der Tag allgemeiner Auflösung gekommen sei.

Einundzwanzigstes Kapitel
    Sobald ich über meine Sinne zu gebieten vermochte, fand ich mich halb erstickt in vollkommener Finsternis unter einer Unmenge losen Erdreichs, das von allen Seiten über mich herkollerte und mich vollends zu begraben drohte. Das Entsetzliche dieses Gedankens trieb mich zur Abwehr; ich mühte mich, wieder auf die Füße zu kommen, und endlich gelang es mir auch. Dann blieb ich einige Augenblicke unbeweglich, indem ich festzustellen versuchte, wo ich denn wäre und was geschehen sei. Jetzt vernahm ich dicht an meinem Ohr ein tiefes Stöhnen, und gleich darauf hörte ich Peters‘ Stimme rufen: »Pym, um Gottes willen, kommen Sie mir zu Hilfe!« Ich kletterte ein paar Schritte nach vorn und fiel alsbald über Kopf und Schultern meines Gefährten. Herabgestürzte Erdmassen hatten ihn bis zum Gürtel begraben, und er trachtete vergebens, sich von ihrer Umarmung zu befreien. Ich riß die Last mit aller Kraft von ihm herunter, und endlich gelang es mir, ihn frei zu machen.
    Sobald wir uns von unserm Schrecken und unsrer Überraschung genügend erholt hatten, um uns mit voller Vernunft aussprechen zu können, kamen wir beide zu dem Schluß, daß die Wände der Seitenkluft eingestürzt wären, und zwar, wie wir meinten, infolge einer unterirdischen Erschütterung oder ihrer eignen Schwere, und daß wir lebendig begraben und wahrscheinlich rettungslos verloren seien. Wir gaben uns lange Zeit der tiefsten Todesangst und Verzweiflung hin. Wer nicht in ähnlicher Lage gewesen ist, kann sich keinen Begriff von unsern Leiden machen. Von allen Zufällen, die des Menschen Leben bedrohen, gibt es nichts Entsetzlicheres: die Schwärze der Finsternis, die das Opfer umringt, der fürchterliche Druck, er auf den Lungen lastet, die erstickenden Ausdünstungen des feuchten Erdreichs, dazu die grauenhafte Erkenntnis, daß man sich jenseits der fernsten Grenzen aller Hoffnung befindet und das Los der Toten teilt, alles das erfüllt das arme Herz mit einem Grausen, einer Fülle würgender Angst, die nicht zu ertragen, niemals auszudenken ist.
    Endlich schlug Peters vor, wir sollten den Umfang unseres Unglücks feststellen, die Wände unsres Kerkers befühlen, es könne doch möglich sein, daß noch irgendwo eine rettende Öffnung zu finden sei. Dieser Hoffnungsschimmer belebte mich, ich raffte mich auf und trachtete, mir einen Weg durch das lockere Erdreich zu bahnen. Kaum war ich einen Schritt vorgedrungen, da erblickte ich einen Lichtschein, und ich war nunmehr überzeugt, daß wir wenigstens nicht ersticken würden. Wir faßten Mut und

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