Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
auf dem schmalen Brink Fuß zu fassen.
Jetzt wandten wir uns ostwärts, hatten aber den gleichen Mißerfolg zu verzeichnen. Nach einstündigem Klettern, währenddessen wir beständig in Gefahr waren, den Hals zu brechen, befanden wir uns in einem riesigen Kessel aus schwarzem Granit, dessen Grund ein feiner Staub bedeckte; der einzige Ausgang aber war der rauhe Pfad, auf dem wir herabgestiegen waren. Wir kletterten mühevoll zurück und versuchten es nun mit dem nördlichen Rand der Anhöhe. Hier war größte Vorsicht vonnöten, da die geringste Unachtsamkeit uns in den Gesichtskreis der Wilden bringen mußte. Wir stahlen uns daher auf Händen und Füßen fort und waren sogar wiederholt genötigt, uns der Länge nach hinzulegen und unsre Leiber flach durchs Gestrüpp zu schieben. Auf diese sorgfältige Weise bewegten wir uns eine Zeitlang fort. Dann kamen wir an eine Kluft, die alle andern an Tiefe übertraf und unmittelbar mit der großen Klamm zusammenhing. So zeigte sich‘s denn, daß wir mit unsern Befürchtungen recht gehabt hatten. Wir waren von der Welt da unten gänzlich abgeschnitten. Vollkommen durch unsre Anstrengungen erschöpft, krochen wir, so gut wir konnten, nach unsrer Plattform zurück, warfen uns auf die Streu und genossen ein paar Stunden süßen und tiefen Schlafes.
Mehrere Tage nach jener vergeblichen Suche waren wir damit beschäftigt, den Berggipfel nach jeder Richtung zu erkunden, um über etwaige Hilfsquellen unterrichtet zu sein. Außer den ungesunden Nüssen und einer saueren Art des Skorbutgrases, die auf einem wenige Ruten im Geviert messenden Fleckchen wuchs und auch bald aufgebraucht sein würde, bot uns die Höhe keinerlei Nahrung. Am 15. Februar, glaub‘ ich, war kein Halm davon übrig, auch die Nüsse fingen an, selten zu werden, und unsre Lage konnte sich kaum noch trauriger gestalten. (Dieser Tag war dadurch denkwürdig, daß wir im Süden einige ungeheure Streifen jenes weißgrauen Dunstes erblickten, von dem ich schon gesprochen habe.) Am Sechzehnten umschritten wir abermals die Wälle unsres Gefängnisses, in der Hoffnung, einen Ausweg zu entdecken; doch es war umsonst. Wir stiegen auch in die Kluft hinunter, in der wir verschüttet worden waren, in der geheimen Erwartung, hier würde sich ein Zugang zur großen Klamm erschließen. Auch darin täuschten wir uns; doch fanden wir eine Muskete und nahmen sie mit.
Am Siebzehnten rückten wir aus mit dem Entschluß, die Kule schwarzen Granits, in die wir auch auf unsrer ersten Expedition gekommen waren, genauer zu untersuchen. Wir erinnerten uns, daß eine der Spalten in der Wand dieses Kessels nicht genugsam erforscht worden war, und wünschten daher, sie recht sorgfältig abzusuchen, obwohl wir nicht hoffen durften, hier einen Ausgang zu finden.
Ohne große Schwierigkeit erreichten wir wieder den Boden der Kule, und heute besaßen wir die nötige Ruhe, um alles aufmerksam zu besichtigen. Wir waren hier an einem höchst eigentümlichen Ort und vermochten kaum zu glauben, daß er natürlichen Ursprungs war. Diese Kule maß vom östlichen bis zum westlichen Ende etwa fünfhundert Ellen, wenn man alle ihre Biegungen mitrechnete; die Länge in gerader Linie betrug nach meiner Schätzung kaum mehr als fünfzig Ellen. Im obersten Abstieg, das heißt etwa hundert Fuß bergabwärts, zeigten die beiden Flanken gar keine Ähnlichkeit miteinander und waren offenbar immer voneinander getrennt gewesen, da die eine Seite aus Speckstein, die andre aus Mergel bestand, der eine Art metallischer Körnung aufwies. Der Abstand zwischen beiden Wänden mochte hier sechzig Fuß betragen, aber es fehlte an einer regelmäßigen Gestaltung. Sobald man jedoch unter jene Grenze hinabstieg, nahm die Entfernung der Flanken sehr schnell ab, sie fingen an, einander parallel zu laufen, obwohl sie noch, was Gestaltung der Oberfläche und Art des Gesteins anbelangt, von verschiedenem Charakter blieben. Aber in einer Höhe von fünfzig Fuß über der Sohle setzte plötzlich eine verblüffende Regelmäßigkeit ein. Die Seiten glichen eine der andern vollständig im Gestein, in der Farbe, in der Richtung; es war ein sehr schwarzer und sehr glänzender Granit, und der Abstand zwischen beiden Wänden betrug an jedem Punkt genau zwanzig Ellen. Ich hatte Taschenbuch und Bleistift bei mir; beide habe ich mit der größten Sorgfalt unter tausend Abenteuern bei mir getragen, und ich verdanke ihnen die Bewahrung vieler Einzelheiten, die sonst aus meinem Gedächtnis
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