Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
hinunter. Und nun erkannten wir, daß es möglich sei, den ganzen Weg auf die gleiche Art zurückzulegen, in der wir aus der verschütteten Kluft zum Licht aufgestiegen waren: indem wir nämlich mit unseren Messern in den Speckstein Stufen schnitten. Für die Gefährlichkeit des Unternehmens gibt es keine Worte, aber ein anderer Ausweg war nicht vorhanden. Unseren Entschluß konnte deshalb nichts mehr erschüttern.
Auf dem Band, von dem ich eben sprach, wuchsen einige Nußstauden; an eine davon knüpften wir unseren Strick aus Taschentüchern. Sein anderes Ende wurde um Peters‘ Hüften gebunden, und ich ließ ihn über den Rand des Absturzes hinab, bis die Tücher sich strammzogen. Jetzt bohrte er ein tiefes Loch in den Speckstein – ungefähr acht bis zehn Zoll tief – und hämmerte dann mit seiner Pistole einen starken Pflock in die Bergwand. Ich hob ihn nun etwa vier Fuß höher, worauf er einen zweiten Pflock einschlug, so daß er einen Halt für Hände und Füße besaß. Jetzt löste ich die Taschentücher vom Strauch ab und warf ihm das Ende des Seiles zu; er band es an den oberen Pflock und ließ sich dann um drei Fuß unter den unteren Pflock hinab; so weit nämlich reichte der Strick. Als es aber nötig wurde, die Taschentücher vom obersten Pflock loszubinden, zeigte es sich, daß wir die Löcher in zu großem Abstand voneinander angebracht hatten. Daher durchschnitt er das Seil sechs Zoll unterhalb der Stütze und band die Taschentücher an den zweiten Pflock. Ich wäre nie auf diese Methode gekommen, die allein der Klugheit und Entschlossenheit meines Gefährten zu verdanken ist. Mit Hilfe einiger Vorsprünge an der Wand erreichte er ohne Unfall die Talsohle.
Es dauerte eine Weile, bevor ich mich entschließen konnte, ihm nachzufolgen. Peters hatte sich vor dem Abstieg seines Hemdes entledigt; dies mußte nun, zusammen mit meinem, das Seil bilden, an dem ich mich hinablassen sollte. Ich warf die Muskete hinunter, befestigte mein Seil an den Sträuchern und ließ mich rasch hinab; hoffte ich doch durch die Entschiedenheit meiner Bewegungen die Zaghaftigkeit zu bannen, die mich unversehens befallen hatte und mit jedem Augenblick zunahm. Es gelang mir auch für die ersten vier, fünf Stufen. Dann fühlte ich, daß meine Einbildungskraft sich immer lebhafter mit der unter mir gähnenden Tiefe, der geringen Haltbarkeit der Pflöcke und der Nachgiebigkeit des Specksteines zu beschäftigen anfing. Umsonst strengte ich mich an, meine Augen unverrückt auf die Bergwand zu richten. Je mehr ich mir Mühe gab, nicht zu denken, desto mehr gewannen jene Vorstellungen volles Leben und erschreckende Deutlichkeit. Endlich trat die so gefährliche, in allen Lagen dieser Art so verhängnisvolle Krisis ein, in der man die Empfindung des Fallens vorauszukosten beginnt, in der man sich die Übelkeit, den Schwindel, den letzten Kampf gegen solche Schwäche, die halbe Ohnmacht und zuletzt die grausame Qual des rasend ungestümen Sturzes in furchtbaren Farben ausmalt. Und diese Phantasien schufen sich jetzt eine Wirklichkeit, und alle Schrecknisse, die ich mir eingebildet hatte, stürmten leibhaftig auf mich ein. Meine Knie schlugen heftig aneinander, langsam, aber mit unfehlbarer Gewißheit lockerten sich meine Finger. Ich hörte Geläut in meinen Ohren und sagte zu mir: »Das ist meine Totenglocke.« Und jetzt verzehrte mich ein unwiderstehliches Verlangen, hinabzuschauen. Ich konnte, ich wollte meinen Blick nicht mehr auf die Bergwand beschränken; und mit einem tollen, nicht zu schildernden Gefühl des Grauens und der Erleichterung schaute ich tief in den Abgrund hinab. Einen Augenblick krampften sich die Finger wütend an ihrem Halt fest, während ein ganz leiser und schwacher Gedanke an die Möglichkeit des Entrinnens wie ein Schatten durch meine Seele flog; gleich darauf kannte mein Gemüt nur einen einzigen Wunsch – die Sehnsucht, das Verlangen, das völlig zügellose Begehren, zu fallen, zu fallen! Ich ließ den Pflock los und verblieb, indem ich mich halb von der Tiefe abwandte, eine Sekunde schwankend vor dem Angesicht des Felsens. Jetzt aber fing mein Hirn zu wirbeln an; eine schrilltönende und geisterhafte Stimme kreischte in meinen Ohren; eine finstere, unholde und nebelhafte Gestalt stand gerade unter mir; ich seufzte, mein Herz schien zu zerspringen, und ich stürzte schwer und leblos der düsteren Erscheinung in die Arme.
Es war eine Ohnmacht gewesen. Peters hatte mich im Sturz aufgefangen. Er hatte vom
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