Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
Großmut auf Seiten Karlchens stand völlig im Einklang mit dem ganzen liebenswürdigen und ritterlichen Wesen, das er zur Schau trug, seit er sich in Schnatterburg ansässig gemacht hatte. Im vorliegenden Fall ließ sich der Brave von der Glut seines Mitgefühls so hinreißen, daß er ganz zu vergessen schien, als er sich zum Bürgen für seinen jungen Freund anbot, daß er selbst (Herr Guterjung) auch nicht eines Dollars Wert auf Erden besaß.
Die Folgen der Verhaftung sind leicht vorauszusehen. Herr Kielfeder wurde unter den lauten Verwünschungen aller Schnatterburger bei der nächsten Gerichtssitzung vorgeführt, und die Beweiskette (durch allerlei erschwerende Umstände ergänzt, die Herrn Guterjungs empfindsames Gewissen dem Gerichtshof nicht vorzuenthalten vermochte) wurde so lückenlos und entscheidend befunden, daß die Geschworenen, ohne ihre Plätze verlassen zu haben, sogleich das Urteil fällten: »Des Mordes schuldig, ohne mildernde Umstände.« Bald darauf erhielt der arme Kerl sein Todesurteil und wurde dann dem Landesgefängnis überantwortet, um der unerbittlichen Strenge des Gesetzes entgegenzusehen.
Inzwischen hatte Karlchen Guterjungs edles Benehmen ihn den würdigen Bürgern des Städtchens doppelt wert gemacht. Er wurde noch zehnmal beliebter als bisher, und als natürliche Folge der Gastfreundschaft, die man ihm entgegenbrachte, gab er notgedrungen die äußerst eingeschränkte Lebensweise auf, die zu führen seine Armut ihn bisher gezwungen hatte, und es gab recht häufig kleine Zusammenkünfte bei ihm zu Hause, bei denen Witz und Frohsinn regierten – freilich von der gelegentlichen Erinnerung an das verdrießliche und tragische Geschick gedämpft, das auf dem Neffen des jüngstbeweinten Busenfreundes unseres großzügigen Gastgebers lastete.
Eines Tages wurde der hochherzige alte Herr durch folgenden Brief angenehm überrascht:
»Herrn Charles Guterjung, Hochwohlgeboren.
Sehr geehrter Herr,
in Verfolg eines Auftrags, der unsrer Firma vor ungefähr zwei Monaten durch unsern wohl löblichen Geschäftsfreund, Herrn Barnabas Schützenwerth, erteilt wurde, beehren wir uns, heute an Ihre Adresse eine Doppelkiste Château Margaux Antilopenbrand, violette Kapsel, abgehen zu lassen. Adresse und Nummer der Kiste wie hierneben.
Wir verbleiben, sehr geehrter Herr,
Ihre ganz ergebenen
Faß, Naß, Haß & Co.
P. S. Die Kiste wird als Bahngut einen Tag nach diesem Brief bei Ihnen eintreffen. Unsre Empfehlung an Herrn Schützenwerth.
F. N. H. & Co.
Tatsache ist, daß Herr Guterjung seit dem Tode des Herrn Schützenwerth die Erwartung völlig aufgegeben hatte, den versprochenen Château Margaux noch zu erhalten, und so erschien ihm das nun als ein Zeichen, daß die Vorsehung ihm verziehen habe. Er war natürlich ungemein entzückt und lud im Überschwang seiner Freude einen großen Bekanntenkreis für den kommenden Tag zu einem » petit souper «, bei welcher Gelegenheit man das Geschenk des guten alten Herrn Schützenwerth anbrechen wollte. Übrigens ließ er, als er die Einladungen vorbrachte, den »guten alten Herrn Schützenwerth« unerwähnt. Wenn ich mich recht erinnere, so sagte er es keiner Seele, daß er den Château Margaux als Geschenk erhalten hatte. Er forderte lediglich seine Freunde auf, bei ihm einen hervorragend guten Wein von köstlichem Aroma zu trinken, den er vor einigen Monaten in der Stadt bestellt habe und der morgen eintreffen werde. Ich mußte mir oft den Kopf zerbrechen, warum »unser Karlchen« nicht sagen wollte, daß er den Wein von seinem alten Freund erhalten hatte, aber ich konnte den Grund für sein Schweigen nie ganz verstehen, wenngleich er ohne Zweifel einen ausgezeichneten und edelmütigen Grund gehabt haben wird.
Der andere Tag kam, und mit ihm fand sich eine sehr große und höchst würdige Gesellschaft im Hause des Herrn Guterjung ein. Ja, die halbe Stadt war da – auch ich gehörte dazu. Zum großen Leidwesen des Hausherrn aber langte der Château Margaux erst in später Stunde an, als dem üppigen, von »unserm Karlchen« spendierten Mahl von den Gästen bereits ausgiebig Ehre angetan worden war. Immerhin, er traf endlich ein – eine ungeheuer große Kiste voll –, und da sich die Gesellschaft in ausgezeichneter Stimmung befand, wurde allgemein beschlossen, die Kiste auf den Tisch zu stellen und sogleich auszupacken.
Kaum gesagt, getan. Ich lieh hilfreiche Hand, und im Nu hatten wir die Kiste auf dem Tisch, mitten zwischen den Flaschen und
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