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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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das Felsengebirge genannt werden.
    An einem trüben, warmen und nebligen Tag gegen Ende November, also in der seltsamen Zwischenzeit, die man in Amerika den Indianersommer nennt, brach Mr. Bedloe wie gewöhnlich nach den Bergen auf. Die Tage vergingen, ohne daß er zurückkehrte.
    Eines Abends gegen acht Uhr, da wir, sehr beunruhigt durch seine lange Abwesenheit, gerade beschlossen, nach ihm zu suchen, tauchte er plötzlich wieder auf. Sein Befinden war nicht schlechter als sonst, er schien sogar in einer ungewöhnlich guten Stimmung zu sein. Der Bericht aber, den er uns über seinen Ausflug und die Ursache zu seinem langen Ausbleiben gab, war ein ganz seltsamer.
    »Sie erinnern sich«, sagte er, »daß es ungefähr neun Uhr war, als ich Charlottesville verließ. Ich wanderte sofort nach den Bergen und betrat gegen zehn Uhr eine Schlucht, die mir ganz unbekannt war. Mit großem Interesse folgte ich den Windungen dieses Engpasses. Das Landschaftsbild, das mich rings umgab, bot, wenn ich es auch nicht großartig nennen kann, doch einen unbeschreiblichen und für mich entzückenden Anblick öder Verlassenheit. Eine gänzlich unberührte Einsamkeit schien dort zu herrschen, und es überkam mich die Vorstellung, als ob der grüne Rasen und die grauen Felsen, über die ich ging, noch niemals von eines Menschen Fuß betreten worden seien. Der Eingang zur Schlucht war so völlig unzugänglich und nur durch eine Reihe von Zufällen auffindbar, daß es durchaus möglich erscheint, wenn ich mich für den ersten Wanderer – wenn ich mich wirklich für den ersten und einzigen Wanderer halte, der jemals in seine Tiefen eingedrungen ist.
    Der dichte und eigentümliche Dunst oder Nebel, der den Indianersommer auszeichnet und der nun schwer über alle Gegenstände herabhing, schien zweifellos den unbestimmten Eindruck zu verstärken, den alles in mir erweckte. So dicht war dieser weiche Nebel, daß ich niemals mehr als zehn Meter von dem Weg vor mir erkennen konnte. Da dieser Weg sehr gewunden und die Sonne nicht mehr sichtbar war, verlor ich bald jedes Bewußtsein davon, in welcher Richtung ich marschierte. Dazu kam, daß das Morphium seine gewohnte Wirkung ausübte, nämlich die ganze Außenwelt bedeutend interessanter und eindringlicher zu machen. Das Erzittern eines Blattes, die Farbe eines Grashalmes, die Form eines Kleeblatts, das Summen einer Biene, das Glitzern eines Tautropfens, das Atmen des Windes, der leise Duft, der aus dem Walde kam, alles dies erweckte in mir eine ganze Welt von Empfindungen, einen lustigbunten Zug ausgelassener und verworrener Gedanken.
    Ganz vertieft wanderte ich so mehrere Stunden weiter, während sich der Nebel um mich herum so verdichtete, daß ich schließlich nur noch tastend meinen Weg finden konnte. Inzwischen hatte mich eine unbeschreibliche Unruhe erfaßt, eine Art von nervöser Unsicherheit und Besorgnis. Ich wagte kaum aufzutreten, aus Angst, ich könnte in einen Abgrund stürzen. Dabei fielen mir auch die seltsamen Geschichten ein, die über das Felsengebirge und über die wilden und unheimlichen Menschen erzählt wurden, die dort in den Schluchten und Höhlen hausen sollten. Tausend unbestimmte Gedanken bedrückten und verwirrten mich, Vermutungen, die um so quälender waren, je weniger ich den Grund dafür finden konnte. Ganz plötzlich aber wurde meine Aufmerksamkeit durch ein lautes Trommelschlagen erregt.
    Mein Erstaunen war natürlich grenzenlos. Eine Trommel in dieser Gegend, das erschien mir unglaublich, und das Ertönen der Posaunen des Jüngsten Tages hätte mich nicht mehr wundernehmen können. Aber dann kam ein neuer und noch erstaunlicherer Grund zur Erregung und Verblüffung. Ich hörte ein wildes Rasseln und Klirren wie von einem Bund großer Schlüssel, und im gleichen Augenblick rannte, laut schreiend, ein dunkelhäutiger, halb nackter Mann an mir vorbei. Er kam dabei so dicht auf mich zu, daß ich seinen heißen Atem im Gesicht fühlte. In der Hand trug er ein Instrument, das aus einer Menge stählerner Ringe zusammengesetzt schien, und schüttelte es heftig beim Laufen. Kaum war er im Nebel verschwunden, als mit offenem Maul und glühenden Augen eine gewaltige Bestie hinter ihm her gerast kam. Ich sah sofort, daß es eine Hyäne war.
    Der Anblick dieses Ungestüms vergrößerte aber nicht meinen Schrecken, sondern verminderte ihn, denn ich war nunmehr überzeugt, daß ich träumte, und versuchte, zu völlig wachem Bewußtsein zu kommen. Mit leichten Schritten schritt

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