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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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ich kühn weiter. Ich rieb mir die Augen, ich stieß laute Rufe aus, ich kniff mir die Glieder. Kurz darauf sah ich eine kleine Wasserquelle vor mir, bückte mich und badete Hände, Kopf und Nacken darin. Das schien auch die unbestimmten Empfindungen, die mich bis dahin gequält hatten, zu verjagen. Ich erhob mich wie neugeboren und ging ruhig und gelassen meinen unbekannten Weg weiter.
    Schließlich war ich aber doch erschöpft durch die Anstrengung und durch die dumpfe Schwüle der Luft und setzte mich unter einen Baum. Bald darauf drang ein schwacher Schimmer von Sonnenschein durch den Nebel, und der Schatten der Zweige wurde langsam, aber immer schärfer auf dem Grasboden sichtbar. Auf diesen Schatten starrte ich ein paar Minuten ganz erstaunt, seine Form verblüffte mich vollständig. Endlich blickte ich empor, der Baum war eine Palme.
    Eilig und in einem Zustand ängstlicher Erregung sprang ich nun empor, denn die Annahme, daß ich noch träumte, war sinnlos geworden. Ich sah jetzt, ich fühlte, daß ich vollkommen Herr über meine Sinne war, und diese Sinne spiegelten mir eine Welt von neuartigem und eigentümlichem Reiz. Die Hitze wurde mit einem Male unerträglich, ein seltsamer Duft schwebte in der Luft. Dann drang ein leises, gleichförmiges Rauschen wie von einem schwer und langsam fließenden Strom an meine Ohren, vermischt mit dem seltsamen Gemurmel zahlreicher menschlicher Stimmen.
    Während ich in einem Übermaß von Erstaunen, das ich nicht beschreiben kann, lauschte, fegte ein starker, plötzlicher Windstoß wie mit einem Zauberstab den dichten Nebel weg.
    Ich befand mich jetzt am Fuße eines hohen Berges und schaute auf eine weite Ebene hinab, durch die sich ein majestätischer Fluß wand. Am Ufer dieses Flusses stand eine Stadt von morgenländischem Charakter, so wie sie in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht beschrieben werden, nur daß sie noch seltsamer war. Da sich mein Standort hoch über der Stadt befand, konnte ich jeden Winkel und jede Ecke genau überschauen, als sei alles auf einer Karte aufgezeichnet. Sie war von unzähligen Straßen durchzogen, die sich unregelmäßig nach allen Richtungen kreuzten, aber eigentlich mehr langgewundenen Gassen als Straßen glichen und dicht mit Menschen angefüllt waren. Die Häuser waren phantastisch malerisch; überall sah ich ein wildes Durcheinander von Balkonen, Verandas, Minaretts, Nischen und wundervoll geschnitzten Erkern. Es gab unendlich viele Bazare mit einer Überfülle von Waren jeder Art – Seide, Musseline, blitzende Messer, wundervolle Juwelen und Gemmen. Daneben sah man allenthalben Fahnen, Sänften, Tragsessel mit dichtverschleierten vornehmen Damen, Elefanten mit prunkvollem Kopfschmuck, grotesk geformte Götzenbilder, Trommeln, Banner und Gongs, Speere, silberne und goldene Zepter, und mitten durch dieses Treiben, durch den Lärm und die allgemeine Verwirrung, durch die Million schwarzer und gelber Menschen mit ihren Turbanen, Roben und flatternden Bärten wälzte sich eine zahllose Menge heiliger, mit Stirnbinden geschmückter Rinder, während ganze Legionen schmutziger, aber heiliger Affen schnatternd und schreiend aus den Dächern der Moscheen herumkletterten oder an den Minaretts und Erkern hingen. Von den überfüllten Straßen gingen bis zum Flußufer unzählige Treppenstufen hinab, die nach den Badeplätzen führten, während der Fluß selbst sich nur mit Mühe einen Weg durch die gewaltigen Flotten von tief beladenen Schiffen, die weit und breit seine Oberfläche bedeckten, zu bahnen schien. Außerhalb der Stadt erhoben sich zahlreiche, majestätische Gruppen von Kokospalmen, vermischt mit anderen uralten Bäumen von riesenhaftem Wuchs und seltsamem Aussehen. Dazwischen konnte man hier und da ein Reisfeld sehen, die strohbedeckte Hütte eines Bauern, eine Zisterne, einen einsamen Tempel, ein Zigeunerlager oder auch ein einzelnes, anmutiges Mädchen, das mit einem Wasserkrug auf dem Kopf nach dem Ufer des herrlichen Stromes hinabschritt.
    Sie werden jetzt natürlich sagen, daß ich träumte, aber das war nicht der Fall. Alles, was ich sah und hörte, was ich dachte und fühlte, hatte nichts mit der unverkennbaren Verworrenheit eines Traumes zu tun. Alles war von schärfster Wirklichkeit. Anfangs hatte ich selbst gezweifelt, ob ich wirklich wach sei, aber mich bald durch eine Reihe von Versuchen von meinem Wachsein überzeugt. Übrigens, wenn einem in einem wirklichen Traum der Gedanke kommt, man träume ja nur, dann

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