Edith Wharton
Miss
Hatchard sprechen zu hören, als sei sie ein quengelndes Baby: trotz seiner
Schüchternheit ging etwas wie Macht von ihm aus, wie sie vermutlich das Leben
in den Städten verlieh. Es war der Umstand, daß er in Nettleton gelebt hatte,
der Anwalt Royall trotz seiner menschlichen Schwächen zum mächtigsten Mann in
North Dormer machte; und Charity war sicher, daß dieser junge Mann in größeren
Orten als Nettleton gelebt hatte.
Sie hatte das Gefühl, wenn sie ihren
anklagenden Ton beibehielte, würde er sie insgeheim mit Miss Hatchard in einen
Topf werfen, und bei dem Gedanken fiel plötzlich alle Ziererei von ihr ab.
»Miss Hatchard ist es einerlei, was ich von ihr halte. Mr. Royall sagt, sie
will sich nach einer ausgebildeten Bibliothekarin umsehen; und ich möchte
lieber kündigen, als daß man sich im Dorf erzählt, sie hat mich entlassen.«
»Natürlich. Aber ich bin sicher, sie
will Sie gar nicht entlassen. Wollen Sie mir nicht auf alle Fälle die Möglichkeit
geben, das erst einmal herauszufinden und Sie dann zu verständigen? Wenn ich
mich irre, haben Sie immer noch genügend Zeit zu kündigen.«
Bei seinem Vorschlag, sich für sie
zu verwenden, trieb ihr der Stolz die Röte in die Wangen. »Ich will nicht, daß
irgend jemand sie dazu überredet, mich zu behalten, wenn ich es ihr nicht recht
mache.«
Auch er wurde rot. »Ich gebe Ihnen
mein Wort, daß ich das nicht tun werde. Nur, warten Sie bis morgen, ja?« Er
blickte ihr mit seinem scheuen grauen Blick direkt in die Augen. »Sie können
mir vertrauen, verstehen Sie – das können Sie wirklich.«
All die alten, eiserstarrten
Kümmernisse schienen in ihr zu schmelzen, und sie murmelte mit abgewandtem
Blick verlegen: »Oh, ich werde warten.«
5
Noch nie hatte es so einen Juni in Eagle County
gegeben. Gewöhnlich war das ein launenhafter Monat, in dem sich verspäteter
Frost und mittsommerliche Hitze abrupt abwechselten; in diesem Jahr folgte ein
Tag voll ausgewogener Schönheit auf den anderen. Jeden Morgen wehte stetig ein
Wind von den Bergen her. Gegen Mittag trieb er große Baldachine aus weißen
Wolken zusammen, die einen kühlenden Schatten über Felder und Wälder warfen;
vor Sonnenuntergang dann lösten sich die Wolken wieder auf, und das Abendlicht
ergoß ungehindert seinen Glanz über das Tal.
An so einem Nachmittag lag Charity
Royall auf einem Hang über einer sonnenbeschienenen Mulde, das Gesicht gegen
den Boden gepreßt, und die warmen Wellen des Grases durchliefen sie. Direkt vor
ihren Augen lehnten sich die zarten weißen Blüten und blaugrünen Blätter
eines Brombeerzweigs gegen den Himmel. Gleich dahinter entrollte ein Büschel
Farne seine Wedel zwischen jungen Grastrieben, und darüber zitterte ein kleiner
gelber Schmetterling wie ein Tupfen Sonne. Mehr sah sie nicht; aber sie spürte
über sich und um sich herum, wie rasch die Buchen wuchsen, die den Hang bedeckten, wie sich die
blaßgrünen Zapfen auf unzähligen Tannenzweigen rundeten, wie Myriaden von
Farnwedeln aus den Rissen in dem steinigen Abhang unterhalb des Waldes
hervordrängten und die Triebe von Spierstrauch und gelben Schwertlilien auf der
Weide dahinter üppig sprossen. Dieses Quellen von Säften, das Schlüpfen aus
Hülsen und das Aufbrechen von Blütenkelchen wurde ihr in sich vermischenden
Duftschwaden zugetragen. Jedes Blatt, jede Knospe, jeder Halm schien mit seiner
Ausdünstung zu der alles durchdringenden Süße beizutragen, in der der würzige Duft
des Fichtenöls stärker war als das Aroma des Thymians und der feine Duft des
Farns, und alles zusammen verschmolz in einem feuchten Geruch nach Erde, einem
Geruch wie der Atem eines riesigen, sonnenwarmen Tieres.
Charity hatte lange dort gelegen,
reglos und durchwärmt von der Sonne wie der Hang, auf dem sie lag, als sich
zwischen ihre Augen und den tanzenden Schmetterling der Fuß eines Mannes in
einem großen, abgetragenen, mit rotem Schlamm bedeckten Stiefel schob.
»Oh, nicht doch!« rief sie, erhob sich
dabei auf den Ellbogen und streckte warnend die Hand aus.
»Was soll ich nicht?« fragte eine
rauhe Stimme über ihrem Kopf.
»Tritt doch nicht auf die
Brombeerblüten, du Tolpatsch!« erwiderte sie und erhob sich auf die Knie. Der
Fuß hielt inne und ließ sich dann unbeholfen auf den zarten Zweig nieder, und
als Charity die Augen hob, sah sie über sich das verdutzte Gesicht eines
schlaksigen Mannes mit dünnem, sonnengebleichtem
Bart und weißen Armen, die durch sein zerrissenes Hemd zu sehen
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