Edith Wharton
waren.
»Siehst du eigentlich nie irgend etwas, Liff
Hyatt?« fuhr sie ihn an, während er vor ihr stand mit dem Gesichtsausdruck
eines Mannes, der in ein Wespennest gegriffen hat.
Er grinste. »Ich hab' dich gesehen!
Deshalb bin ich runtergekommen.«
»Runter? Von wo?« fragte sie und
bückte sich, um die Blütenblätter aufzusammeln, die sein Fuß verstreut hatte.
Er deutete mit dem Daumen zum Gipfel
hoch. »Hab' für Dan Targatt Bäume gefällt.«
Charity ließ sich auf die Fersen
nieder und sah ihn nachdenklich an. Sie fürchtete sich nicht im geringsten vor
dem armen Liff Hyatt, obwohl er »vom Berg kam« und manche von den Mädchen
wegrannten, wenn sie ihn sahen. Bei den Vernünftigeren ging er als harmloses
Wesen durch, als eine Art Mittler zwischen dem Berg und den zivilisierten Menschen,
der gelegentlich herunterkam und für einen Farmer etwas Holz fällte, wenn es
an Arbeitskräften mangelte. Außerdem wußte sie, daß die Leute vom Berg ihr nie
etwas zuleide täten: Liff selbst hatte ihr das einmal gesagt, als sie ihm eines
Tages, als sie noch klein war, am äußersten Ende von Anwalt Royalls Weideland
begegnet war. »Keiner von denen da droben wird dir auch nur ein Haar krümmen,
falls du jemals raufkommst. Aber ich denke, du wirst nicht kommen«, hatte er
gleichmütig hinzugefügt, während er einen Blick auf ihre
neuen Schuhe und das rote Band warf, das Mrs. Royall ihr ins Haar geflochten
hatte.
Tatsächlich hatte Charity nie den
Wunsch verspürt, ihren Geburtsort zu besuchen. Sie legte keinen Wert darauf,
daß bekannt wurde, daß sie vom Berg stammte, und vermied es, beim Gespräch mit
Liff Hyatt gesehen zu werden. Aber heute bedauerte sie nicht, daß er erschienen
war. Viele Dinge waren ihr seit dem Tag widerfahren, als der junge Lucius
Harney durch die Tür der Hatchard-Gedächtnis-Bibliothek getreten war, aber
keines vielleicht so unerwartet wie die Tatsache, daß sie es plötzlich
vorteilhaft fand, mit Liff Hyatt auf gutem Fuße zu stehen. Sie blickte immer
noch neugierig auf zu seinem sommersprossigen, wettergegerbten Gesicht mit den
fiebrig eingefallenen Wangen und den blaßgelben Augen eines harmlosen Tiers.
»Ob er wohl mit mir verwandt ist?« überlegte sie mit einem hochmütigen
Schauder.
»Leben irgendwelche Leute oben in
dem braunen Haus am Moor, unterhalb vom Porcupine?« fragte sie jetzt in beiläufigem
Ton.
Liff Hyatt sah sie eine Weile
überrascht an; dann kratzte er sich am Kopf und verlagerte sein Gewicht von der
einen durchlöcherten Schuhsohle auf die andere. »Wohnen immer schon dieselben
Leute in dem braunen Haus«, sagte er mit seinem schwer deutbaren Grinsen.
»Sie gehören zu deiner Familie,
stimmt's?«
»Sie haben denselben Namen wie ich«,
sagte er vage.
Charity fixierte ihn immer noch mit
beherztem Blick. »Hör zu, ich will da demnächst hin und einen Herrn mitnehmen,
der bei uns wohnt. Er ist hier rauf in diese Gegend gekommen, um Zeichnungen zu
machen.«
Sie machte keine Anstalten, diese
Bemerkung zu erklären. Sie überstieg Liff Hyatts Horizont viel zu weit, als
daß sich der Versuch gelohnt hätte. »Er möchte sich das braune Haus ansehen und
überall drin herumgehen«, fuhr sie fort.
Liff fuhr sich immer noch verwundert
durch seinen strohblonden Schopf. »Ist es jemand aus der Stadt?« fragte er.
»Ja. Er zeichnet Dinge. Jetzt
zeichnet er grade das Bonner-Haus.« Sie deutete auf einen Schornstein, der eben
noch über der Senke des Weidelands unterhalb des Waldes zu sehen war.
»Das Bonner-Haus?« wiederholte Liff
ungläubig.
»Ja. Das verstehst du nicht – und
das macht auch nichts. Ich sage nur, in ein, zwei Tagen geht er zu den Hyatts.«
Liff sah immer verblüffter drein.
»Bash ist nachmittags manchmal widerlich.«
»Ich weiß. Aber ich glaube, er wird
mir keine Schwierigkeiten machen.« Sie warf den Kopf in den Nacken, die Augen
voll auf Hyatt gerichtet. »Ich komme mit: sag ihm das.«
»Keiner von denen wird dir
Schwierigkeiten machen, nicht die Hyatts. Aber warum willst du einen Fremden
mitbringen?«
»Das hab' ich dir doch gesagt, oder?
Du mußt Bash Hyatt Bescheid sagen.«
Er blickte weg, zu den blauen Bergen
am Horizont hinüber; dann fiel sein Blick auf die Schornsteinspitze unter der
Koppel.
»Ist er jetzt da unten?«
»Ja.«
Er verlagerte wieder sein Gewicht,
verschränkte die Arme und blickte weiter auf die Landschaft in der Ferne.
»Also, bis später«, sagte er endlich abschließend; er drehte sich um und
stapfte den Hügel
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