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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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hinauf. Auf dem Felsvorsprung über ihr blieb er stehen und
rief herunter: »Ich würd' nicht an einem Sonntag hingehn,« dann kletterte er
weiter, bis die Bäume ihn aufnahmen. Bald darauf hörte Charity von hoch oben
den Klang seiner Axt.
    Sie lag auf dem warmen Hang, und viele Dinge gingen ihr
durch den Kopf, die das Erscheinen des Holzfällers in ihr aufgerührt hatte. Sie
wußte nichts über ihre ersten Lebensjahre und hatte nie Neugier danach verspürt,
nur ein dumpfes Widerstreben, den Winkel ihres Gedächtnisses zu durchforschen,
wo gewisse nebelhafte Bilder schlummerten. Aber alles, was ihr in den
vergangenen Wochen widerfahren war, hatte sie für diese verschlafenen Abgründe
empfänglich gemacht. Sie war sich selbst mit einemmal zutiefst interessant geworden,
und alles, was mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte, wurde von dieser
plötzlichen Neugier erhellt.
    Mehr denn je war ihr die Tatsache
verhaßt, vom Berg zu stammen, aber sie war ihr nicht mehr gleichgültig. Alles,
was sie in irgendeiner Weise betraf, wurde lebendig und deutlich: selbst die
verhaßten Dinge waren interessant geworden, weil sie ein Teil von ihr waren.
    »Ob Liff Hyatt weiß, wer meine
Mutter war?« überlegte sie; und der Gedanke, daß eine Frau, die einmal jung
und schlank gewesen war und deren Blut wie ihres leicht in Wallung geriet, sie
in ihrem Herzen getragen und ihren Schlaf bewacht hatte, erfüllte Charity mit
einem Schauder der Verwunderung. Sie hatte sich stets vorgestellt, ihre Mutter
sei schon so lange tot, um nichts als nur noch ein namenloses Häufchen Staub zu
sein; aber nun kam ihr der Gedanke, die einstmals junge Frau könne noch am
Leben sein, runzlig und verwahrlost wie die Frau, die sie manchmal in der Tür
des braunen Hauses hatte stehen sehen, das Lucius Harney zeichnen wollte.
    Die Vorstellung brachte sie zum
Mittelpunkt ihrer Gedanken zurück, und die Mutmaßungen, zu denen Liff Hyatts
Gegenwart sie angeregt hatte, verflüchtigten sich. Vermutungen, die die
Vergangenheit betrafen, konnten sie nicht lange beschäftigen, wenn die Gegenwart
so reich, die Zukunft so rosig war und Lucius Harney sich, nur einen Steinwurf
entfernt, über sein Skizzenbuch beugte und dann den Kopf in den Nacken warf
mit jenem unvermittelten Lächeln, das seinen Glanz über alles gebreitet hatte.
    Sie machte Anstalten, sich zu
erheben, doch da sah sie ihn die Weide heraufkommen, ließ sich wieder ins Gras sinken und wartete. Wenn er
eines »seiner Häuser«, wie sie sie nannte, zeichnete und vermaß, streifte sie
oft allein im Wald oder auf den Hügeln umher. Zum Teil geschah es aus
Schüchternheit, aus einem Gefühl der Unzulänglichkeit, das sie am
schmerzlichsten empfand, wenn ihr Gefährte, in seine Arbeit vertieft, ihre
Unwissenheit und ihre Unfähigkeit, auch nur die geringste seiner Anspielungen
zu begreifen, nicht bedachte und sich in einem Monolog über die Kunst und das
Leben erging. Um die peinliche Situation zu meiden, ihm mit ausdruckslosem
Gesicht zuhören zu müssen, und auch den erstaunten Blicken der Bewohner der
Häuser zu entgehen, vor denen er unvermittelt das Pferd zum Stehen brachte, um
dann sein Skizzenbuch aufzuschlagen, zog sie sich oft an eine Stelle zurück,
von der aus sie ihn, ohne selbst gesehen zu werden, bei der Arbeit beobachten
oder zumindest auf das Haus hinunterschauen konnte, das er gerade zeichnete. Es
hatte ihr zunächst nicht mißfallen, daß man in North Dormer und Umgebung wußte,
daß sie Miss Hatchards Cousin in dem Einspänner, den er von Anwalt Royall
gemietet hatte, in der Gegend herumkutschierte. Sie hatte stets Abstand gewahrt,
hatte sich hochmütig vom dörflichen Liebestreiben ferngehalten, ohne genau zu
wissen, ob ihr unbändiger Stolz daher rührte, daß sie sich ihrer mit einem
Makel behafteten Herkunft bewußt war, oder daher, daß sie sich für eine
glänzendere Zukunft aufsparte. Manchmal beneidete sie die anderen Mädchen um
ihre Herzensangelegenheiten, neidete ihnen die langen Stunden, in denen sie, ohne daß viele Worte gemacht wurden,
mit einem der wenigen jungen Burschen herumpoussierten, die noch im Dorf
geblieben waren; aber wenn sie sich vorstellte, daß sie für Ben Fry oder einen
der Sollas-Brüder ihr Haar in Locken legen oder ein neues Band an ihren Hut
nähen würde, legte sich das Fieber, und sie verfiel wieder in
Gleichgültigkeit.
    Jetzt wußte sie, was ihre Verachtung
und ihr Widerwille zu bedeuten gehabt hatten. Sie hatte ihren eigenen Wert
erkannt, als Lucius

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