Edith Wharton
Harney bei ihrem Anblick den Faden verloren und sich
errötend an die Kante ihres Schreibtischs gelehnt hatte. Doch sie hatte eine
neue Art von Scheu kennengelernt: die entsetzliche Furcht, den geheiligten
Schatz ihres Glücks gemeinen Gefahren auszusetzen. Es störte sie nicht, daß
die Nachbarn annahmen, sie »gehe« mit einem jungen Mann aus der Stadt; aber sie
wollte nicht, daß die ganze Gegend erfuhr, wie viele Stunden der langen
Junitage sie mit ihm verbrachte. Am meisten fürchtete sie, daß die unvermeidlichen
Kommentare Mr. Royall zu Ohren kommen könnten. Charity war sich instinktiv
bewußt, daß nur weniges, was sie betraf, den Augen des schweigsamen Mannes entging,
unter dessen Dach sie lebte; und trotz der Freiheiten, die North Dormer
Liebespaaren zugestand, hatte sie stets das Gefühl, daß Mr. Royall, sobald sie
eine zu offene Vorliebe für jemanden zeigen sollte, es ihr »heimzahlen« würde,
wie sie es ausdrückte. Wie, das wußte sie nicht; doch ihre Angst war um so
größer, als sie nicht zu bestimmen war. Hätte sie sich von einem Dorfburschen
den Hof machen lassen, wäre sie nicht so besorgt gewesen:
Mr. Royall konnte sie nicht daran hindern zu heiraten, wenn sie es wünschte.
Aber jedermann wußte, daß es anders und problematischer war, wenn man »mit
einem Burschen aus der Stadt ging«: Fast jedes Dorf konnte ein Opfer solcher
gefährlichen Abenteuer vorweisen. Und ihre Angst vor Mr. Royalls Einmischung
verlieh den Stunden, die sie mit dem jungen Harney verbrachte, ein intensiveres
Glück, und ließ sie gleichzeitig vermeiden, sich allzu häufig mit ihm sehen zu
lassen.
Als er näher kam, erhob sie sich auf
die Knie und streckte die Arme über den Kopf in jener trägen Geste, die bei ihr
äußerstes Wohlbehagen ausdrückte.
»Ich werde Sie zu dem Haus direkt
unterm Porcupine hinaufführen«, verkündete sie.
»Welches Haus? Ach ja, das
windschiefe Ding in der Nähe des Moors, wo diese zigeunerhaften Leute herumlungern.
Merkwürdig, daß ein Haus, das Spuren richtiger Architektur aufweist, an einer
solchen Stelle gebaut worden ist. Die Leute machten aber einen ziemlich
mürrischen Eindruck – glauben Sie, die lassen uns hinein?«
»Sie werden tun, was ich ihnen
sage«, sagte Charity zuversichtlich.
Er warf sich neben ihr ins Gras.
»Wirklich?« erwiderte er lächelnd. »Jedenfalls würde ich gern sehen, was
drinnen noch übriggeblieben ist. Und ich würde mich gern mit den Leuten
unterhalten. Wer hat mir denn neulich erzählt, Sie seien vom Berg
heruntergekommen?«
Charity warf ihm von der Seite einen
Blick zu. Zum erstenmal hatte er vom Berg nicht als einem Bestandteil der
Landschaft gesprochen. Was wußte er noch darüber und über ihre Beziehung zu
ihm? Der heftige Drang, sich zu wehren, den sie instinktiv bei jeder eingebildeten
Kränkung empfand, ließ ihr Herz rascher schlagen.
»Vom Berg? Ich hab' keine Angst vor
dem Berg!«
Ihr trotziger Ton schien ihm zu
entgehen. Er lag bäuchlings im Gras, brach ein paar Thymianzweige ab und
drückte sie an seine Lippen. In weiter Ferne, über den Falten der näher
gelegenen Hügel, erhob sich der Berg bedrohlich vor einem gelben
Sonnenuntergang.
»Irgendwann einmal muß ich dort
hinauf: ich möchte es sehen«, fuhr er fort.
Ihr Herz schlug langsamer, und
wieder wandte sie sich ihm zu, um sein Profil zu erforschen. Es war bar aller
unfreundlichen Absichten.
»Warum wollen Sie auf den Berg?«
»Nun, es muß dort oben recht
merkwürdig sein. Sie wissen ja, da oben befindet sich eine seltsame Siedlung:
so etwas wie Geächtete, ein kleines, unabhängiges Reich. Natürlich haben Sie
von ihnen gehört; aber man hat mir erzählt, daß sie nichts mit den Leuten in
den Tälern zu schaffen haben wollen – eigentlich ziemlich auf sie
herabschauen. Vermutlich sind es rauhe Gesellen, aber sie haben bestimmt viel
Charakter.«
Sie verstand nicht recht, was er mit
»viel Charakter« meinte; aber sein Ton drückte Bewunderung aus, was ihre
aufkeimende Neugier verstärkte. Es kam ihr mit einemmal seltsam vor, daß sie so
wenig über den Berg wußte. Sie hatte nie Fragen gestellt, und nie hatte jemand sich erboten, sie aufzuklären.
In North Dormer nahm man den Berg einfach hin und äußerte seine Geringschätzung
mehr durch den Tonfall als durch deutlich ausgesprochene Kritik.
»Wissen Sie, es ist sonderbar«, fuhr
er fort, »daß es gleich da drüben, auf diesem Hügel da, eine Handvoll Leute
gibt, die sich den Teufel um jemanden scheren.«
Diese
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