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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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Worte durchfuhren sie. Es
schien, als seien sie der Schlüssel zu ihrer eigenen Aufsässigkeit und zu ihrem Trotz, und sie hoffte
sehnlichst, daß er ihr mehr erzählen werde. »Ich weiß nicht viel über sie.
Leben sie schon immer da oben?«
    »Niemand weiß anscheinend genau,
seit wann. In Creston unten hat man mir erzählt, daß die ersten Siedler
vermutlich Männer waren, die vor vierzig, fünfzig Jahren am Bau der Eisenbahn zwischen
Springfield und Nettleton mitgearbeitet haben. Einige von ihnen fingen an zu trinken, bekamen vielleicht
auch Ärger mit der Polizei und verschwanden – tauchten
unter in den Wäldern. Ein, zwei Jahre später ging das Gerücht, sie lebten auf dem Berg. Dann kamen
vermutlich andere hinzu – und Kinder wurden geboren.
Inzwischen sollen über hundert Menschen da oben sein. Sie leben offenbar vollkommen außerhalb der
Gerichtsbarkeit der Täler. Keine Schule, keine Kirche – und kein Sheriff sieht
mal da oben nach dem Rechten. Aber spricht man denn in North Dormer nie von
ihnen?«
    »Ich weiß
nicht. Sie sagen, sie sind schlecht.«
    Er lachte. »Wirklich? Wir gehen hin
und sehen selber nach, wollen wir?«
    Sie errötete bei diesem Vorschlag
und wandte ihr Gesicht seinem zu. »Sie wissen wahrscheinlich nicht – daß ich
von da oben komme. Sie haben mich heruntergeholt, als ich noch klein war.«
    »Sie?« Er erhob sich auf den
Ellbogen und sah sie mit plötzlich erwachtem Interesse an. »Sie kommen vom
Berg? Wie eigenartig! Vermutlich sind Sie deshalb so anders ...«
    Vor Freude errötete sie bis in die
Stirn. Er bewunderte sie – und bewunderte sie, weil sie vom Berg kam!
    »Bin ich ... anders?« sagte sie
triumphierend, mit geheuchelter Verwunderung.
    »Oh, und wie!« Er ergriff ihre Hand
und drückte einen Kuß auf die sonnengebräunten Knöchel.
    »Kommen Sie«, sagte er, »gehen wir.«
Er stand auf und schüttelte das Gras von seinen legeren grauen Sachen. »Was
für ein schöner Tag! Und wohin führen Sie mich morgen?«

6
    An diesem Abend saß Charity nach dem
Essen allein in der Küche und lauschte Mr. Royall und dem jungen Harney, die
sich draußen auf der Veranda unterhielten.
    Sie war drinnen geblieben, nachdem
der Tisch abgeräumt und die alte Verena hinauf ins Bett gehumpelt war. Das
Küchenfenster stand offen, und Charity hatte sich in seine Nähe gesetzt, die
Hände müßig auf den Knien. Es war ein kühler, stiller Abend. Jenseits der
schwarzen Hügel färbte sich der bernsteinfarbene Westen blaßgrün, dann zu
Dunkelblau, worin ein großer Stern stand. Der leise Schrei einer kleinen Eule
drang durch das Dunkel, und zwischen ihren Rufen hörte man die Stimmen der
beiden Männer leiser und wieder lauter werden.
    In Mr. Royalls tiefer Stimme klang
Genugtuung. Es war lange her, daß er einen Gesprächspartner von Lucius Harneys
Bildung gehabt hatte: Charity ahnte, daß der junge Mann seine ganze
gescheiterte und unvergessene Vergangenheit verkörperte. Als Miss Hatchard wegen
der Krankheit einer verwitweten Schwester nach Springfield gerufen worden war
und der junge Harney, der mittlerweile ernsthaft damit beschäftigt war, alle al
ten Häuser zwischen Nettleton und der Grenze zu New Hampshire zu zeichnen und
zu vermessen, angefragt hatte, ob er während der Abwesenheit seiner Cousine
im roten Haus verköstigt werden könne, hatte Charity gezittert bei dem
Gedanken, daß Mr. Royall nein sagen würde. Es wäre nicht in Frage gekommen, den
jungen Mann bei ihnen einzuquartieren: sie hatten keinen Platz für ihn. Aber
wenn Mr. Royall gestattete, daß er seine Mahlzeiten im roten Haus einnähme,
konnte er auch weiterhin im Haus von Miss Hatchard wohnen; und nach einem Tag
Bedenkzeit willigte Mr. Royall ein.
    Charity hatte den Verdacht, daß er
froh sei, ein bißchen Geld zu verdienen. Er galt allgemein als geizig; aber
sie vermutete allmählich, daß er wahrscheinlich ärmer sei, als die Leute
annahmen. Seine Anwaltspraxis war inzwischen kaum mehr als eine vage Legende,
die nur dann neue Nahrung erhielt, wenn er – was immer seltener vorkam – zu
einem Fall nach Hepburn oder Nettleton geholt wurde; und er schien für den
Lebensunterhalt hauptsächlich auf die kargen Erträge seines Hofes und die
Aufträge der paar Versicherungsagenturen angewiesen zu sein, die er in der
Umgebung vertrat. Jedenfalls hatte er Harneys Angebot, den Einspänner für
eineinhalb Dollar pro Tag zu mieten, sofort angenommen; und daß er mit diesem
Handel zufrieden war, hatte sich, ziemlich

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