Edith Wharton
unerwartet, am Ende der ersten Woche
darin geäußert, daß er Charity eine Zehndollarnote in den Schoß warf, als sie
gerade dabei war, ihren alten Hut ein bißchen aufzuputzen.
»Da – kauf dir einen Sonntagshut, um
den dich alle andern Mädchen beneiden«, sagte er mit einem schüchternen
Zwinkern in seinen tiefliegenden Augen; und Charity erriet sofort, daß das
unerwartete Geschenk – das einzige Geldgeschenk, das sie je von ihm erhalten
hatte – Harneys erste Zahlung war.
Doch die Ankunft des jungen Mannes
hatte Mr. Royall nicht nur finanziellen Nutzen gebracht. Er hatte dadurch auch
seit Jahren zum erstenmal einen Mann als Gesprächspartner. Charity hatte nur
eine vage Vorstellung von den Bedürfnissen ihres Vormunds; aber sie wußte, daß
er sich den Menschen seiner Umgebung überlegen fühlte, und sie sah, daß Lucius
Harney ihn genauso sah. Es überraschte sie, wie gewandt Mr. Royall offenbar
reden konnte, nun, da er einen Zuhörer hatte, der ihn verstand; und sie war
gleichermaßen beeindruckt von der freundlichen Ehrerbietung, die der junge
Harney ihm entgegenbrachte.
Meist drehten sich die Gespräche um
Politik und überstiegen Charitys Horizont; aber an diesem Abend war das Thema
von besonderem Interesse für sie, denn sie hatten angefangen, vom Berg zu
sprechen. Sie zog sich ein wenig vom Fenster zurück, damit sie nicht merkten,
daß sie in Hörweite war.
»Der Berg? Der Berg?« hörte sie Mr.
Royall sagen. »Also, der Berg ist ein Schandfleck, ja, genau das, Sir, ein
Schandfleck. Diesen Abschaum da droben hätte man längst einsperren müssen – und
das wäre auch passiert, wenn die Leute hier unten nicht so eine Heidenangst
vor ihnen hätten. Der Berg gehört zu dieser Gemeinde, und North Dormer ist
Schuld, wenn da drüben vor unseren Augen eine Bande von Dieben und Gesetzlosen
haust, die die Gesetze ihres Landes mißachten. Mein Gott, es traut sich ja nicht
einmal ein Sheriff oder ein Steuereinnehmer oder ein Leichenbeschauer da rauf.
Wenn die Gemeinderäte hören, daß auf dem Berg irgend etwas faul ist, schauen
sie schnell in die andere Richtung und bewilligen Gelder zur Verschönerung
der Gemeindepumpe. Der einzige, der je raufgeht, ist der Pfarrer, und der geht
rauf, weil sie immer nach ihm schicken, wenn einer von ihnen stirbt. Auf dem
Berg halten sie viel von einem christlichen Begräbnis – aber ich hab' noch nie
gehört, daß sie den Pfarrer zu einer Hochzeit hätten holen lassen. Und den Friedensrichter
behelligen sie auch nicht damit. Sie hausen einfach zusammen wie die Heiden.«
Dann erklärte er in einer Art
Fachsprache, wie es die kleine Kolonie illegaler Siedler fertiggebracht hatte,
dem Gesetz die Stirn zu bieten,. und Charity wartete mit brennender Neugierde
auf den Kommentar Lucius Harneys; der junge Mann schien jedoch mehr daran interessiert,
Mr. Royalls Ansichten zu hören, als seine eigenen zu äußern.
»Sie selbst sind wohl nie dort oben
gewesen?« fragte er dann.
»0 doch«, sagte Mr. Royall mit einem
verächtlichen Lachen. »Die Neunmalklugen hier unten haben mir weismachen
wollen, daß die mich erledigen würden, ehe ich umkehren könnte; aber niemand
krümmte mir auch nur ein Haar. Dabei hatte ich gerade einen aus ihrer Bande für sieben Jahre hinter
Schloß und Riegel gebracht.«
»Und danach sind Sie raufgegangen?«
»Ja, Sir, sofort danach. Der Kerl
kam runter nach Nettleton und lief Amok, so wie sie's manchmal tun. Wenn sie
für irgend jemand Holz geschlagen haben, kommen sie runter und versaufen das
Geld; und dieser Mann beging am Schluß einen Totschlag. Ich erreichte, daß er
verurteilt wurde, obwohl man selbst in Nettleton Angst vor dem Berg hatte; und
dann passierte etwas Merkwürdiges. Der Kerl Iieß mich zu sich ins Gefängnis
holen. Ich ging hin, und er sagte folgendes zu mir: ›Der Idiot, der mich
verteidigt hat, ist ein feiger Hosensch ... und so weiter‹, sagt er.
›Jemand muß für mich auf dem Berg was erledigen, und Sie sind der einzige
von allen, die ich im Gericht gesehen hab', der aussieht, als könnt' er's.‹
Er sagte mir, er habe ein Kind da oben – oder zumindest glaubte er, es sei
seines –, ein kleines Mädchen; und er wollte, daß es ins Tal gebracht und wie
ein Christenmensch erzogen würde. Der Kerl tat mir leid, und ich ging rauf und
holte das Kind.« Er hielt inne, und Charity lauschte mit klopfendem Herzen.
»Das war das einzige Mal, daß ich auf dem Berg war«, schloß er.
Einen Augenblick herrschte
Schweigen; dann
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