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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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sprach Harney. »Und das Kind – hatte es keine Mutter mehr?«
    »0 doch: es gab eine Mutter. Aber
die war froh, es los zu sein. Sie hätte es jedem mitgegeben. Die da oben sind
halbe Tiere, wie man hier unten sagt. Vermutlich ist die Mutter mittlerweile
tot, bei dem Leben, das sie führte. Jedenfalls hab' ich seit diesem Tag nie
mehr von ihr gehört.«
    »Mein Gott, wie entsetzlich«,
murmelte Harney; und Charity, die beinahe zu ersticken glaubte vor Demütigung,
sprang auf und rannte nach oben. Jetzt wußte sie es endlich: daß sie das Kind
eines trunksüchtigen Sträflings und einer Mutter war, die »ein halbes Tier«
und froh war, sie los zu sein; und sie hatte gehört, wie diese Geschichte ihrer
Herkunft dem einzigen Menschen erzählt wurde, in dessen Augen sie den Leuten
in ihrer Umgebung überlegen erscheinen wollte! Ihr war nicht entgangen, daß Mr.
Royall sie nicht erwähnt, ja sogar jede Andeutung vermieden hatte, durch die
man sie als das Kind hätte identifizieren können, das er vom Berg geholt hatte;
und sie wußte, daß er aus Rücksicht auf sie geschwiegen hatte. Doch was nutzte
seine taktvolle Verschwiegenheit, da sie gerade erst an diesem Nachmittag,
durch Harneys Interesse an der Siedlung der Gesetzlosen verführt, sich vor ihm
damit gebrüstet hatte, daß sie vom Berg kam? Nun bewies ihr jedes Wort, das
gefallen war, wie sehr eine solche Herkunft die Kluft zwischen ihnen
vergrößern mußte.
    In den zehn Tagen, die er sich
mittlerweile in North Dormer aufhielt, hatte Lucius Harney zu ihr kein einziges
Mal von Liebe gesprochen. Er hatte sich bei seiner Cousine für sie verwendet
und Miss Hatchard von ihren Verdiensten als Bibliothekarin überzeugt; doch das
war nur ein Akt der Gerechtigkeit gewesen, denn allein durch seine Schuld waren
diese Verdienste in Zweifel gezogen worden. Er hatte sie
gebeten, ihn im Land herumzukutschieren, als er Anwalt Royalls Einspänner
gemietet hatte, um seine Ausflüge mit dem Zeichenblock zu unternehmen; aber
auch das war nur natürlich, da er sich in der Gegend nicht auskannte. Und
schließlich hatte er Mr. Royall gebeten, ihn als Kostgänger aufzunehmen, als
seine Cousine nach Springfield gerufen worden war; aber wo sonst in North
Dormer hätte er seine Mahlzeiten einnehmen können? Nicht bei Carrick Fry,
dessen Frau gelähmt war und dessen große Familie sich schon viel zu zahlreich
um seinen Tisch drängte, nicht bei den Targatts, die eine Meile außerhalb des
Orts wohnten, nicht bei der armen alten Mrs. Hawes, die kaum noch die Kraft
hatte, für sich selbst zu kochen, seit ihre älteste Tochter sie verlassen
hatte, während Ally gezwungen war, sich ihren Lebensunterhalt als Näherin zu
verdienen. Mr. Royalls Haus war das einzige, wo dem jungen Mann eine angemessene
Gastfreundschaft geboten werden konnte. Es hatte also im äußeren Verlauf der
Ereignisse nichts gegeben, was in Charitys Herzen die Hoffnungen hätte wecken
können, vor denen es erbebte. Aber unter den sichtbaren Geschehnissen, die mit
Lucius Harneys Ankunft in Zusammenhang standen, gab es eine verborgene
Strömung, so geheimnisvoll und mächtig wie jene Kraft, welche die Bäume
ausschlagen läßt, noch bevor das Eis von den Tümpeln verschwunden ist.
    Der Auftrag, der Harney hergeführt
hatte, war verbürgt; Charity hatte den Brief eines New Yorker Verlegers
gesehen, in dessen Auftrag er eine Studie über die Häuser aus dem 18. Jahrhundert in
den weniger bekannten Regionen Neuenglands schreiben sollte. Aber
unbegreiflich, wie die ganze Angelegenheit für sie war, und unverständlich, wie
sie es fand, daß Harvey hingerissen vor manchen vernachlässigten Häusern ohne
Außenanstrich verharrte, während er andere, die von einem einheimischen
Baumeister verschönert und »verbessert« worden waren, keines Blickes würdigte,
konnte sie nur vermuten, daß der Eagle County weniger architektonische Schätze
besaß, als Harney behauptete, und daß die Dauer seines Aufenthalts (die er auf
einen Monat festgesetzt hatte) etwas zu tun hatte mit dem Ausdruck seiner
Augen, als er damals in der Bibliothek vor ihr plötzlich verstummt war. Alles,
was nachgefolgt war, schien aus diesem Blick erwachsen zu sein: seine Art, mit
ihr zu reden, die Schnelligkeit, mit der er erfaßte, was sie sagen wollte,
seine offenkundige Bereitschaft, ihre Ausflüge auszudehnen und jede Gelegenheit
zu ergreifen, mit ihr zusammen zu sein.
    Die Zeichen seiner Sympathie waren
deutlich genug; aber es war schwer zu erraten, wieviel sie

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