Edith Wharton
Rock. Als Charity die Treppe hinunterging, rief Mr. Royall
hinter ihr her: »Wohin gehst du?« Sie hätte leicht antworten können: »Zu Orma«
oder: »Runter zu den Targatts«; und beides hätte stimmen können, denn sie
hatte kein festes Ziel. Aber sie eilte schweigend weiter, entschlossen, sein
Recht, sie zu befragen, nicht anzuerkennen.
Beim Tor blieb sie stehen und sah
rechts und links die Straße hinunter. Die Dunkelheit zog sie an, und sie
überlegte, ob sie den Hügel hinaufsteigen und sich in die Tiefen des
Lärchenwalds über der Viehkoppel stürzen solle. Dann blickte sie wieder
unschlüssig die Straße hinunter, und dabei bemerkte sie einen Lichtschimmer,
der durch die Rottannen vor Miss Hatchards Tor drang. Lucius Harney war also
da – er war nicht mit Mr. Miles nach Hepburn gefahren, wie sie zunächst
angenommen hatte. Aber wo hatte er zu Abend gegessen, und was hatte ihn
veranlaßt, Mr. Royalls Haus fernzubleiben? Das Licht bewies eindeutig seine
Anwesenheit, denn Miss Hatchards Dienstboten hatten freibekommen, und die
Bauersfrau kam nur morgens, um dem jungen Mann das Bett zu machen und den
Kaffee zu kochen. Gewiß saß er in diesem Augenblick neben jener Lampe. Um die
Wahrheit zu erfahren, brauchte Charity nur durch das halbe Dorf zu gehen und
an das erleuchtete Fenster zu klopfen. Sie zögerte noch eine kleine Weile,
dann ging sie auf Miss Hatchards Haus zu.
Sie schritt rasch aus und strengte
ihre Augen an, um jeden, der ihr begegnen mochte, rechtzeitig zu entdecken;
und kurz vor dem Haus der Frys ging sie auf die andere Straßenseite, um dem
Lichtschein aus ihrem Fenster auszuweichen. Immer wenn sie unglücklich war,
hatte sie das Gefühl, einer mitleidlosen Welt ausgeliefert zu sein, und eine
Art Drang, sich wie ein Tier zu verkriechen, befiel sie. Doch die
Straße war leer, und sie gelangte unbemerkt durch das Tor und den Weg hinauf
bis zum Haus. Seine weiße Fassade schimmerte undeutlich zwischen den Bäumen
hindurch, und nur im Erdgeschoß zeigte sich ein helles Rechteck. Sie hatte geglaubt,
die Lampe befinde sich in Miss Hatchards Wohnzimmer, aber nun sah sie, daß das
Licht durch ein Fenster an der entgegengesetzten Ecke des Hauses schien. Sie
kannte den Raum nicht, zu dem dieses Fenster gehörte, und blieb unter den
Bäumen stehen, denn ein Gefühl der Fremdheit hielt sie zurück. Dann ging sie
weiter, wobei sie vorsichtig auf das kurze geschnittene Gras trat und so dicht
am Haus blieb, daß die Person im Zimmer, wer immer sie war, sie nicht würde sehen
können, selbst wenn sie durch ihre Schritte aufgeschreckt würde.
Das Fenster ging auf eine schmale
Veranda mit Pergola. Charity lehnte sich dicht an die Pergola, schob die
Clematiszweige, die sich daran hochrankten, auseinander und sah eine Ecke des
Zimmers. Sie erblickte das Fußende eines Mahagonibetts, einen Stich an der
Wand, ein Waschgestell, über das ein Handtuch geworfen war, und ein Ende des
mit grünem Tuch bezogenen Tischs, auf dem die Lampe stand. Die Hälfte des Lampenschirms
ragte in ihr Blickfeld, und direkt darunter sah sie zwei gepflegte
sonnengebräunte Hände, die eine mit einem Bleistift, die andere mit einem
Lineal, die sich auf einem Zeichenbrett hin und her bewegten.
Ihr Herz tat einen Sprung, dann
stand es still. Da war er, ein paar Schritte entfernt; und während sie auf Wo
gen des Leids umhergetrieben wurde, hatte er seelenruhig vor seinem
Zeichenbrett gesessen. Der Anblick dieser beiden Hände, die sich mit ihrer
gewohnten Geschicklichkeit und Genauigkeit auf dem Brett bewegten, riß sie
aus ihrem Traum. Plötzlich ging ihr das Mißverhältnis zwischen dem, was sie
empfunden hatte, und der Ursache ihrer Erregung auf; und sie wandte sich gerade
vom Fenster ab, als die eine Hand plötzlich das Zeichenbrett beiseite stieß und
die andere den Bleistift hinwarf.
Es war Charity oft aufgefallen, wie
liebevoll Harney mit seinen Zeichnungen umging und wie ordentlich und
methodisch er jede Arbeit ausführte und zu Ende brachte. Die Ungeduld, mit der
er das Zeichenbrett weggeschoben hatte, deutete auf eine neue Seite hin. Die
Geste ließ auf eine plötzliche Entmutigung oder Abneigung gegen seine Arbeit
schließen, und sie fragte sich, ob auch ihn insgeheim eine tiefe Verwirrung erschüttere.
Ihre Regung wegzulaufen, war gebremst; sie trat auf die Veranda und blickte in
das Zimmer.
Harney hatte die Ellbogen auf den
Tisch gestützt und sein Kinn auf die gefalteten Hände gelegt. Er hatte Rock und
Weste ausgezogen und
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