Edith Wharton
Augenblick lang war sie versucht, sich höhnisch zu verlachen, weil
sie die Kunstgriffe nicht angewandt hatte, die ihn vielleicht zum Bleiben
bewegt hätten. Sie blieb am Tisch sitzen, bis das Essen vorbei war, damit Mr.
Royall keine Bemerkungen über einen vorzeitigen Aufbruch machen konnte; doch
als er aufstand, erhob sie sich ebenfalls, ohne Verena beim Abräumen zu
helfen. Sie hatte den Fuß schon auf der Treppe, als er sie zurückrief.
»Ich habe Kopfweh. Ich geh' rauf und
leg' mich hin.«
»Ich möchte, daß du erst herkommst; ich habe dir etwas zu
sagen.«
Aus seinem Tonfall schloß sie, daß
sie im nächsten Moment erfahren werde, was jeder Nerv in ihr zu wissen
begehrte; doch als sie umkehrte, unternahm sie eine letzte Anstrengung,
gleichgültig zu erscheinen.
Mr. Royall stand in der Mitte des
Büros, seine buschigen Brauen waren finster zusammengezogen, sein Unterkiefer
zitterte leicht. Zunächst dachte sie, er habe getrunken; dann sah sie, daß er
nüchtern, doch von einer tiefgehenden, heftigen Erregung aufgewühlt war, die
seinen üblichen, schnell verrauchenden Wutausbrüchen überhaupt nicht ähnlich
sah. Und plötzlich begriff sie, daß sie ihn bis zu diesem Augenblick nie
richtig wahrgenommen oder über ihn nachgedacht hatte. Außer damals, als er ihr
zu nahegetreten war, war er für sie lediglich der Mensch gewesen, der stets da
war, der unbestrittene Mittelpunkt des Lebens, so unvermeidlich, aber auch so
uninteressant wie ganz North Dormer oder die anderen Lebensbedingungen, die das
Schicksal ihr auferlegt hatte. Selbst damals hatte sie ihn nur in der Beziehung
zu ihr gesehen, hatte sich aber nie Gedanken über seine eigenen Gefühle
gemacht, hatte lediglich instinktiv gefolgert, er werde sie nicht mehr auf dieselbe
Art und Weise belästigen. Nun aber begann sie sich zu fragen, wer er in
Wirklichkeit sei. Er hielt die Rückenlehne seines Stuhls mit beiden Händen
umklammert und sah Charity unverwandt an. Schließlich sagte er: »Charity, laß
uns ausnahmsweise wie Freunde miteinander reden.«
Sie spürte sofort, daß etwas
passiert war und daß er sie in der Hand hatte.
»Wo ist Mr. Harney? Warum ist er
nicht zurückgekommen? Hast du ihn weggeschickt?« stieß sie hervor, ohne zu
wissen, was sie sagte.
Die Veränderung, die in Mr. Royall
vorging, erschreckte sie. Alles Blut schien aus seinen Adern zu weichen, und
in der dunklen Blässe wirkten die tiefen Furchen in seinem Gesicht schwarz.
»Hatte er gestern nacht denn keine
Zeit, dir ein paar von diesen Fragen zu beantworten? Du bist lange genug bei
ihm gewesen!« sagte er.
Charity verschlug es die Sprache.
Diese höhnische Bemerkung hatte so wenig mit dem zu tun, was sich in ihrem
Inneren abgespielt hatte, daß sie sie kaum begriff. Doch der Instinkt der
Selbstverteidigung erwachte in ihr.
»Wer behauptet denn, daß ich gestern
nacht bei ihm war?«
»Mittlerweile behauptet es der ganze
Ort.«
»Dann hast du ihnen diese Lüge in
den Mund gelegt. Oh, ich habe dich immer schon gehaßt!« rief sie aus.
Sie hatte eine entsprechende Antwort
erwartet, und es überraschte sie, daß ihr Ausruf in der Stille verhallte. »Ja,
ich weiß«, sagte Mr. Royall langsam. »Aber das hilft uns jetzt nicht viel.«
»Mir hilft es, mir nichts daraus zu
machen, was für Lügen du über mich erzählst!«
»Wenn es Lügen sind, dann sind es
nicht meine Lügen: das schwör' ich bei der Bibel, Charity. Ich wußte nicht, wo
du warst: ich habe das Haus gestern nacht nicht verlassen.«
Sie gab keine Antwort, und er fuhr
fort. »Ist es eine Lüge, daß man dich gestern gegen Mitternacht aus Miss
Hatchards Haus hat kommen sehen?«
Mit einem Lachen richtete sie sich
auf, ihre ganze tollkühne Dreistigkeit kam zurück. »Ich hab' nicht nachgesehen,
wie spät es war.«
»Du verlorenes Geschöpf ... du ...
du ... 0 mein Gott, warum hast du es mir gesagt?« stieß er hervor und ließ sich
auf den Stuhl sinken, den Kopf auf die Brust gesenkt wie ein alter Mann.
Mit dem Bewußtsein der Gefahr war
Charitys Selbstbeherrschung zurückgekehrt. »Glaubst du, ich würde mir die Mühe
machen, dich anzulügen? Wer bist du denn, daß du
mich fragen dürftest, wohin ich gehe, wenn ich nachts ausgehe?«
Mr. Royall hob den Kopf und sah sie
an. Sein Gesicht war ruhig und beinahe sanft, und sie erinnerte sich, daß sie
ihn als kleines Mädchen zuweilen so erlebt hatte, bevor Mrs. Royall starb.
»Laß uns nicht so weitermachen,
Charity. Es kann uns beiden nichts Gutes bringen. Man
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