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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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den weichen Kragen seines Flanellhemds aufgeknöpft; sie
sah die kräftigen Linien seines jungen Halses und den Ansatz der Muskeln, die
sich im Brustkorb fortsetzten. Er saß da und starrte vor sich hin, einen
Ausdruck des Überdrusses und des Ekels vor sich selbst im Gesicht: es war fast
so, als starre er auf ein verzerrtes Spiegelbild seiner eigenen Züge. Einen
Augenblick lang betrachtete Charity ihn geradezu entsetzt, als sehe sie
einen Fremden hinter den vertrauten Gesichtszügen; dann blickte sie an ihm
vorbei und sah auf dem Boden einen halb mit Kleidern gefüllten Koffer
offenstehen. Sie erkannte, daß er im Begriff war abzureisen und wahrscheinlich
beschlossen hatte, wegzufahren, ohne sie noch einmal zu sehen. Sie erkannte,
daß dieser Entschluß, aus welchem Grund auch immer er gefaßt worden war, ihn
zutiefst aufgewühlt hatte, und kam augenblicklich zu dem Schluß, daß er seine
Pläne geändert hatte, weil sich Mr. Royall insgeheim eingemischt hatte. Ihr
ganzer alter Groll, ihre ganze Empörung flammten wieder auf, undeutlich
verquickt mit der Sehnsucht, die Harneys Nähe geweckt hatte. Nur wenige
Stunden früher hatte sie sich in seinem verständnisvollen Mitleid gut
aufgehoben gefühlt; nun war sie wieder auf sich selbst zurückgeworfen,
doppelt allein nach diesem Augenblick der Zusammengehörigkeit.
    Harney ahnte noch immer nichts von
ihrer Gegenwart. Er saß reglos da und starrte düster auf ein- und denselben
Punkt auf der Tapete. Er hatte sich nicht einmal dazu aufraffen können,
fertigzupacken, und seine Kleider und Papiere lagen um den Koffer verstreut am
Boden. Nun öffnete er die gefalteten Hände und stand auf; und Charity, die sich
hastig zurückzog, kauerte auf den Stufen der Veranda nieder. Die Nacht war so
dunkel, daß keine große Gefahr bestand, von ihm gesehen zu werden, es sei
denn, er öffnete das Fenster, aber davor würde Zeit genug sein, zu
entschlüpfen und im Schatten der Bäume zu verschwinden. Er stand eine kleine
Weile da und sah sich mit demselben Ausdruck des Ekels vor sich selbst im
Zimmer um, als hasse er sich und alles um sich her; dann setzte er sich wieder
an den Tisch, zeichnete noch ein paar Striche und warf dann den Bleistift weg.
Schließlich ging er durch das Zimmer, stieß den Koffer mit dem Fuß beiseite und
legte sich aufs Bett; die Arme unter dem Kopf verschränkt, starrte er
verdrossen an die Decke. In derselben Haltung hatte ihn Charity neben sich im
Gras oder auf Tannennadeln liegen sehen, den Blick zum Himmel gerichtet,
während Freude über sein Gesicht gezuckt war wie das Flimmern der
Sonnenstrahlen, die durch die Zweige auf sein Gesicht fielen. Aber nun war sein
Gesicht so verändert, daß sie es kaum wiedererkannte; und der Kummer über
seinen Kummer sammelte sich in ihrer Kehle, stieg ihr in die Augen und floß
über.
    Sie kauerte immer noch auf den
Stufen, hielt den Atem an und machte sich so steif, daß sie völlig reglos saß.
Eine Bewegung ihrer Hand, ein Klopfen an der Fensterscheibe, und sie konnte
sich ausmalen, wie sein Gesicht sich plötzlich verändern würde. In jeder
Schwingung ihres starren Körpers war sie sich bewußt, wie seine Augen und
Lippen sie willkommen heißen würden; aber etwas hielt sie zurück. Es war nicht
die Angst vor Strafe, sei sie menschlich oder göttlich; sie hatte sich nie im
Leben vor etwas gefürchtet. Es war nur, daß sie mit einemmal begriff, was
passieren würde, wenn sie hineinginge. Es war das, was sich zwischen jungen
Männern und Mädchen wirklich abspielte und was in North Dormer in der
Öffentlichkeit ignoriert und hinter vorgehaltener Hand hämisch
belacht wurde. Es war das, wovon Miss Hatchard immer noch nichts ahnte, über
das aber jedes Mädchen in Charitys Klasse Bescheid wußte, noch bevor es die
Schule verließ. Es war das, was Ally Hawes' Schwester Julia zugestoßen war und
damit geendet hatte, daß sie nach Nettleton ging und man nie mehr ihren Namen
erwähnte.
    Natürlich endete es nicht immer so
aufregend, auch vielleicht nicht alles in allem so untragisch. Charity hatte
stets geargwöhnt, daß das Schicksal der verstoßenen Julia auch seine guten
Seiten haben könnte. Andere Geschichten, die im Dorf bekannt waren, hatten
schlimmer geendet – trostlos, jämmerlich, nie eingestanden; andere hatten ihr
Leben trübselig weitergeführt, ohne sichtbare Veränderung immer in derselben
beengten, scheinheiligen Atmosphäre. Aber das waren nicht die Gründe, die
Charity zurückhielten. Seit dem

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