Edith Wharton
von einem plötzlich von
Wissensdurst ergriffenen Besucher gestört zu werden, beschränkte ihre
Unterhaltung auf den Austausch von Gemeinplätzen; doch für Charity lag ein
besonderer Reiz gerade in dem Kontrast zwischen diesen öffentlich ausgetauschten
Artigkeiten und ihrer geheimen Vertrautheit.
Am Tag nach der Fahrt zu dem braunen
Haus war »Bibliothekstag«, und Charity saß an ihrem Schreibtisch und arbeitete
an der Revision des Katalogs, während die kleine Targatt, stets mit einem Auge
am Fenster, die Titel eines Stapels Bücher herunterleierte. Charity war in
Gedanken weit weg, in dem düsteren Haus am Moor und unter dem dämmernden Himmel
während der langen Heimfahrt, als Lucius Harney sie mit liebevollen Worten
getröstet hatte. An diesem Tag war er zum erstenmal, seit er bei ihnen die
Mahlzeiten einnahm, nicht wie gewöhnlich zum Mittagessen erschienen. Keine
Botschaft war gekommen, um sein Fernbleiben zu erklären, und Mr. Royall, der
noch schweigsamer war als sonst, hatte keinerlei Überraschung gezeigt und
keine Bemerkung gemacht. An sich hatte diese Gleichgültigkeit nichts zu
besagen, denn Mr. Royall hatte, wie die meisten seiner Mitbürger, eine Art, die
Dinge einfach hinzunehmen, als sei er längst zu dem Schluß gekommen, daß
niemand, der in North Dormer lebte, hoffen könne, sie zu ändern. Aber für
Charity hatte dieses Schweigen, das so ganz im Gegensatz zu ihrer
leidenschaftlichen Hochstimmung stand, etwas Beunruhigendes. Es war beinahe, als
hätte Lucius Harney in ihrer beider Leben niemals eine Rolle gespielt: Mr.
Royalls unerschütterlicher Gleichmut schien ihn in die Sphäre des Unwirklichen
zu verweisen.
Während Charity mit ihrer Arbeit
beschäftigt war, versuchte sie, die Enttäuschung über Harneys Fernbleiben
abzuschütteln. Irgendein harmloser Zwischenfall hatte ihn wahrscheinlich daran
gehindert, mittags zu ihnen zu kommen; aber sie war überzeugt, er sei darauf
erpicht, sie wiederzusehen, und würde nicht warten wollen, bis sie sich beim
Abendbrot in Anwesenheit von Mr. Royall und Verena begegneten. Sie überlegte
gerade, was wohl seine ersten Worte sein würden, und versuchte einen Vorwand zu
finden, unter dem sie die kleine Targatt loswerden könnte, da hörte sie draußen
Schritte, und er kam mit Mr. Miles den Weg entlang.
Der Pfarrer von Hepburn kam, außer
wenn er in der alten weißen Kirche, die durch einen ungewöhnlichen Zufall zu
der Episkopalgemeinde gehörte, den Gottesdienst abhielt, nur selten nach North
Dormer. Er war ein lebhafter, umgänglicher Mann, eifrig darauf bedacht, das
Beste aus der Tatsache zu machen, daß ein kleiner Kern von »Kirchentreuen« in
der sektiererischen Wildnis überlebt hatte, und entschlossen, den Einfluß der pfefferkuchenfarbenen
Baptistengemeinde am anderen Ende des Dorfes zu untergraben; aber er wurde von
seinen Gemeindepflichten in Hepburn, wo es Papiermühlen und Gasthäuser gab,
sehr in Atem gehalten und konnte nicht oft Zeit für North Dormer erübrigen.
Charity, die in die weiße Kirche
ging (wie alle besseren Leute in North Dormer), bewunderte Mr. Miles und hatte
sich während des denkwürdigen Ausflugs nach Nettleton sogar vorgestellt, sie
sei mit einem Mann verheiratet, der eine ebenso gerade Nase hätte und auch so
schön reden könnte und der in einem Pfarrhaus aus braunem Sandstein lebte, das
von wildem Wein überwachsen war. Die Entdeckung, daß bereits eine Dame mit
gekräuseltem Haar und einem stattlichen Säugling dieses Privileg genoß, war
ein Schlag gewesen; aber seit der Ankunft Lucius Harneys war Mr. Miles längst
aus Charitys Träumen verbannt, und als er neben Harney den Weg heraufkam, sah
sie ihn, wie er wirklich war: ein dicker Mann mittleren Alters, mit einer
Glatze, die unter dem Pfarrershut vorguckte, und einer Brille auf der
griechischen Nase. Sie fragte sich, was ihn an einem Werktag nach North Dormer
geführt haben konnte, und war ein wenig gekränkt, weil Harney ihn in die
Bibliothek mitbrachte.
Es stellte sich bald heraus, daß
seine Anwesenheit Miss Hatchard zu verdanken war. Er hatte ein paar Tage in
Springfield verbracht, wo er einen Pfarrkollegen vertreten hatte, und war von
Miss Hatchard wegen der Pläne des jungen Harney zur Belüftung der Gedächtnisbibliothek
zu Rate gezogen worden. Hand an das Mausoleum der Hatchards zu legen, war eine
schwerwiegende Angelegenheit, und Miss Hatchard, stets voller Skrupel, und
voller Skrupel wegen ihrer Skrupel (wie Harney es formulierte), wünschte
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